Gekommen, um zu bleiben

Sie sind angetreten, die Welt zu verändern: Seit Oktober campen Aktivisten der Occupy-Bewegung auf einem Platz in Hamburgs City. Zuletzt waren es nur noch knapp 20. Sie hoffen, dass im Frühjahr wieder mehr Mitstreiter dazustoßen. Ein Besuch im Camp.

(aus Hinz&Kunzt 231/Mai 2012)

Im INFOZELT wird auch manchmal musiziert. Hier gibt Hinz&Künztler und Campbewohner Lee einen Song zum Besten.

Mitten in Hamburgs Innenstadt treffen an einem Abend im April Bewegungsgenerationen aufeinander. In der selbstgebauten Jurte im Occupy-Camp auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz wird es eng, als die rund 20 Aktivisten sich um das wärmende Feuer in der Mitte versammeln. Unter dem schwarzen Zeltstoff ist es düster, die Stimmung ist freundlich. Einige hier machen schon seit den 1980er-Jahren Politik, andere erst seit ein paar Monaten. Manche haben graue Haare, andere tragen Dreadlocks.

Die Ärzte gegen Atomkraft sind zu Besuch im Camp von Occupy Hamburg. Es geht um Austausch und Vernetzung. Mittendrin sitzt Barbara, und sie ist irgendwie alles. Auch sie ist Ärztin, auch sie ist seit Jahrzehnten politisch engagiert. Und sie wohnt seit Oktober hier im Camp.

Die 44-jährige Barbara ist schon seit ihrer Kindheit Aktivistin. Damals ging sie noch zur Grundschule. Barbaras Vater reiste als Ingenieur häufig beruflich in das südafrikanische Apartheid-Regime. „Die Neger können das doch selber gar nicht“, habe er sich damals rassistisch gerechtfertigt. „Da hat sich bei mir der erste Widerstand geregt“, sagt Barbara. „Ich dachte mir: Das kann irgendwie nicht sein.“ Und so wird im rechtskonservativen Elternhaus der Grundstein für ihre Karriere als Aktivistin gelegt. In der Schule erkämpfte sie dann ihre ersten Erfolge. Als erstes Mädchen setzte sie durch, am Werk- und nicht am Handarbeitsunterricht teilnehmen zu dürfen. „Ich war früher eine kleine Emanze“, erinnert sie sich. Heute ist die kleine Emanze eine gestandene Frau, die die Welt verändern will.

Das wollen alle hier im Camp, so unterschiedlich sie auch sind. Studenten, Arbeitslose, Wohnungslose haben sich hier niedergelassen. Idealisten, Freigeister und die, die nicht mehr an die Parteiendemokratie glauben. „Die Leute hier haben alle ein gutes Herz“, sagt der 27-jährige Stephan, gefragt nach den Gemeinsamkeiten der Campbewohner. Occupy, das wird hier verstanden als ein Prozess. Der Austausch im öffentlichen Raum macht die Bewegung aus. Jeder kann hier seine eigene Meinung haben. Einziger Grundsatz: Occupy ist gegen Gewalt und Ungerechtigkeit, betont Barbara.

Die Aktivisten kritisieren die europäische Krisenbewältigungspolitik genauso wie die Flüchtlingspolitik. Die Privatisierung öffentlicher Plätze und Gentrifizierung. Den Abbau von Demokratie und Freiheitsbeschränkungen im Internet. „Wir empören uns über die Verschmutzung und Zerstörung unserer Lebensgrundlagen durch den fortgesetzten Irrglauben an grenzenloses Wachstum und durch die Konsumgier unserer Wegwerfgesellschaft“, steht in ihrer Grundsatzerklärung. Die kleine Zeltstadt in Hamburgs Innenstadt wird all das nicht radikal verändern können, dessen sind sich die Aktivisten bewusst. „Nicht komplett. Aber wir können zum Denken anregen“, sagt Stephan.

Den Studenten nennen hier alle den „Campältesten“, obwohl er erst 27 ist. Er ist von Anfang an hier, hat von einem Tag auf den anderen sein Soziologie-Studium unterbrochen und ist in die Innenstadt umgezogen. „Am 15. Oktober wollte ich vor dem Rathaus demonstrieren. Fünf Stunden später befand ich mich dann mit einem Zelt vor der HSH-Nordbank“, erinnert er sich. „Das wurde von niemandem geplant.“
90 Prozent seiner Zeit habe er seitdem im Camp verbracht.

Solche Geschichten erzählen hier viele. So auch Leonhard, der seit Dezember im Zelt schläft. Der 37-jährige hat auf dem zweiten Bildungsweg BWL studiert – und dabei gemerkt, dass in der Wirtschaft einiges schiefläuft, wie er findet. Seit er sich deswegen ins Occupy-Leben gestürzt hat, hat er für seine Freunde deutlich weniger Zeit. „Aber richtige Freunde verstehen das und besuchen mich dann hier“, sagt er. Und manchmal, wenn es ihm hier zu viel wird, nimmt er sich eine Auszeit und geht einfach nach Hause.

Ein bisschen unwirklich wirkt die Zeltstadt, hier inmitten der großen Werbetafeln von Adidas, Karstadt & Co. Draußen der Überfluss, drinnen der Verzicht auf Luxus. Doch die Aktivisten kommen zurecht. Der Strom kommt aus dem naheliegenden Thalia-Theater, sogar W-LAN gibt es. „Wir gehen zum Pinkeln zu McDonald’s oder in die HSH“, erzählt Stephan. „Systemtoiletten zuscheißen!“, sagt er mit einem Grinsen im Gesicht. Geduscht wird bei Campbewohnern, die in der Nähe eine Wohnung haben. Manches sammelt man sich in der Umgebung zusammen: Häufig bleibe auf Baustellen etwas übrig, Holz oder Planen zum Beispiel. „In der Stadt wird sehr viel weggeschmissen, das ist enorm krass“, findet Stephan. Viele Sachen würden auch von Sympathisanten gespendet.

Ihre Küche haben die Aktivisten in einer selbstgebauten Hütte eingerichtet, nebst Gemeinschaftsraum. Hier ist es ziemlich eng, aber dafür schön warm. Ein Campbewohner surft auf einem Notebook bei Facebook. Einige trinken Bier, andere rauchen Zigaretten. Mittendrin sitzt der wohl jüngste Campbewohner: Radomir ist anderthalb Jahre alt und greift nach den Keksen, die auf dem Tisch stehen. Mit seiner
Mutter Mareike hat er auch schon mal im Camp geschlafen, die Regel ist das aber nicht. Trotzdem sind die beiden seit Oktober immer wieder hier gewesen. „Wir haben uns ziemlich gut kennengelernt und sind als Freunde zusammengewachsen“, sagt Mareike. „Die Leute passen mit auf Radomir auf, er kennt die auch schon.“

Wenn Mareike ohne ihren Sohn im Camp schläft, beginnt ihr Tag erst gegen Mittag. Dann geht sie zum Infopoint, das ist ein Pavillion mit einem Tisch davor, auf dem Flugblätter ausliegen. Sie spricht dann viel mit den Passanten und erklärt ihnen ihre Weltsicht. Immer donnerstags finden hier Workshops statt, freitags ist das große Plenum. Da wird dann das Zusammenleben organisiert und über künftige Aktionen debattiert. Manchmal laufen dienstags Dokumentarfilme im Campkino.

Häufig sind die Campbewohner auch einfach nur gesellige Menschen. „Abends sitzen wir meistens mit mehreren Leuten zusammen, so wie Freunde das halt tun“, sagt Barbara. „Manchmal gehen wir auch in irgendeine Kneipe und trinken was.“ Jetzt, wo der Frühling kommt, soll das Camp auch wieder ein bisschen gemütlicher werden. „Wir fangen gerade mit Gärtnern an und wollen den Platz begrünen“, erzählt die Ärztin „Neulich hatten wir eine ganze Menge Jam-Sessions, da habe ich Musik gemacht“, berichtet Mareike aus dem Campleben.

Barbaras Campalltag unterscheidet sich von den meisten anderen. Wenn sie um halb acht aufsteht, schlafen die anderen noch. Dann trinkt sie einen Kaffee und fährt in ihre Arztpraxis nach Altona, wo sie sich vor der Sprechstunde unter die Dusche stellt. Nach ihrem Arbeitstag fährt sie direkt zurück ins Camp. „Das ist manchmal auch anstrengend“, räumt sie ein. „Aber ich war nie der Typ, der nach der Arbeit nach Hause geht und sich vor den Fernseher setzt.“ Und einen Fernseher gibt es im Camp auch nicht.

Wenn die Aktivisten ihre Chance sehen, gegen Ungerechtes zu Felde zu ziehen, nehmen sie diese Möglichkeit wahr. „Unsere Lieblingsbeschäftigung ist zu stören“, sagt Barbara. Sie erinnert an eine Aktion im Dezember, als einige Aktivisten sich im Apple-Store am Jungfernstieg angekettet haben, um gegen die schlechten Arbeitsbedingungen in den Zuliefer­betrieben des Technologiekonzerns zu protestieren. Die Polizei kam und beendete den Protest, nahm die Aktivisten fest. „Wir können hier üben, Ordnungswidrigkeiten gelassen zu nehmen“, sagt sie. „Das Schöne ist: Es passiert letztlich nichts.“

So läuft es auch mit dem Camp. Im April mussten die Aktivisten es verkleinern, weil ein Café seine Außenbestuhlung aufbauen wollte. Zehn Meter Abstand sollen sie halten,
machen das aber nur zähneknirschend. Ihren Raum für den politischen Austausch lassen sich die Camper nur ungerne wegnehmen. Und wenn man ihnen kein Recht gibt, nehmen sie es sich einfach. „Wir machen das, was wir selber für legal halten“, erklärt Barbara.

Im Frühjahr, so hofft sie, werden es wieder mehr als nur die knapp 20 Menschen sein, die das machen. Für den 12. Mai haben die Occupy-Aktivisten eine Demonstration auf dem Rathausmarkt angemeldet. Damit wollen sie an ihren Erfolg aus dem Herbst anknüpfen und am liebsten ein neues Camp errichten. In der Fantasie der Aktivisten stehen ihre Zelte bereits auf dem Platz vor dem Rathaus. „Das wäre ein sehr schönes Bild“, sagt Stephan. „Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn wir das schaffen würden.“

Beim Generationentreffen in der Jurte wird später am Abend ein Fazit des Treffens gezogen. „Ich glaube nicht, dass ihr in drei Jahren noch im Camp lebt“, sagt einer der Ärzte gegen Atomkraft. „Aber ich lasse mich überraschen.“ Eine Anti-AKW-Ärztin ergänzt: „Man kann euch nur Glück und Erfolg wünschen!“ Ein Campbewohner befürchtet, dass es in 30 Jahren einen Bürgerkrieg geben könnte – „wenn es so
weitergeht.“ Den zu verhindern, das wäre ein Ziel, auf das sich hier alle einigen könnten. •

Aktuelle Termine und Infos: www.occupyhamburg.org

Text: Benjamin Laufer
Foto: Mauricio Bustamante