Immer mehr Menschen müssen ergänzend Hartz IV beantragen, weil ihr Lohn zum Leben nicht reicht. Und manche Arbeitgeber kalkulieren die staatliche Hilfe regelrecht ein, nach dem Motto: Warum soll ich meinen Mitarbeitern viel Lohn geben, wenn das Amt bezahlt? Ein Behördenchef will das nicht dulden: Peter Hüfken, Chef der Arge Stralsund, zieht neuerdings vors Arbeitsgericht, um Geld für den Steuerzahler zurückzuholen – mit Erfolg.
(aus Hinz&Kunzt 206/April 2010)
Peter Hüfken jubelt nicht, kaum eine Miene verzieht der 55-jährige Behördenchef mit dem Vollbart. Eben erst hat der Arbeitsrichter ihm Recht gegeben, im Prinzip jedenfalls. Hat verkündet, dass der angeklagte Pizzeria-Betreiber der Stralsunder Arbeitsgemeinschaft (Arge) 6.617,42 Euro überweisen muss. Geld, das die Hartz-IV-Behörde Beschäftigten des Restaurants zahlen musste, weil deren Löhne mitunter 1,50 Euro die Stunde unterschritten und zum Leben lange nicht reichten. Peter Hüfken hat an diesem Tag also mal wieder gewonnen bei seinem Kampf gegen die Ausbeuter der Stadt – aber nicht auf ganzer Linie. Rund 11.000 Euro Steuergelder wollte der Arge-Geschäftsführer zurückhaben. Doch der Richter hat die Grenzen zum Unanständigen anders gezogen. Hüfken sagt: „Ich fühle mich bestätigt.“ Jedoch zeige das Urteil, dass die Forderungen seiner Behörde künftig noch umfassender begründet werden müssten.
Anderthalb Jahre ist es her, dass der gebürtige Rheinländer, der kurz nach der Wende in den Osten zog, erstmals gegen einen Arbeitgeber Klage erhob. Sechzig Mal hat die Stralsunder Arge inzwischen Geld gefordert von Unternehmern, die sittenwidrige Löhne bezahlt haben. Dabei kann sie sich seit April 2009 auf ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts berufen. Demnach ist ein Lohn sittenwidrig, wenn er weniger als zwei Drittel der tariflichen oder ortsüblichen Vergütung beträgt.
Rund 64.000 Euro Steuergelder hat die Behörde bislang zurückgeholt, wenn nötig mithilfe eines Gerichtsverfahrens. Zehn Klagen gegen fünf Arbeitgeber sind anhängig.
Nicht nur Beschäftigte in der Gastronomie leiden unter Hungerlöhnen. Sondern auch „Mitarbeiter in der Hauswirtschaft, Kraftfahrer im Behinderten- und Krankentransport, Altenpflegehelfer, Schwesternhelfer, aber auch Bürokräfte in Vereinen oder gemeinnützigen Einrichtungen“, so Hüfken. Warum er als bundesweit einziger Geschäftsführer einer Arge gegen Lohnwucher kämpft? „Ich finde es ungerecht und unanständig, was da passiert“, sagt der Mann, der seit fünf Jahren die Geschicke der Stralsunder Arge lenkt.
Angefangen habe alles 2007 mit der Frage, was die Behörde für sogenannte Aufstocker tun könne – jene Menschen also, deren Lohn zum Leben nicht ausreicht und die deshalb auf ergänzende Hilfe angewiesen sind. „Bei näherer Betrachtung stießen wir dann auf eine ganze Reihe Fälle, in denen kontinuierlich niedrige Stundenlöhne gezahlt wurden“, so Hüfken. Trauriger Tiefpunkt bisher: ein Zimmermädchen, das für 26 Cent pro Stunde arbeiten ging. Nachdem gute Worte wiederholt nicht zu besseren Löhnen führten, entschied die Behörde sich für den Gang vors Gericht – „ungeachtet der damals noch sehr unsicheren Rechtslage“.
Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) schätzt, dass bundesweit mehr als 100.000 Menschen unanständig geringen Lohn bezahlt bekommen und deshalb ergänzend Hartz IV beziehen müssen. Die Bundesagentur für Arbeit (BA) kennt dennoch keine weitere Arge in Deutschland, die vergleichbar gegen Dumpinglöhne vorgehen würde. Im Übrigen gelte, dass die Argen „in Fällen auffälliger, sittenwidriger Lohnzahlungen (im Regelfall deutlich unter drei Euro pro Stunde) gehalten sind, die Arbeitsentgeltansprüche durchzusetzen“.
Die Hamburger Hartz-IV-Behörde erklärte Anfang März auf Nachfrage von Hinz&Kunzt, sie sei von der Bundesagentur „erst vergangene Woche“ auf die Handlungsvorgabe aufmerksam gemacht worden. „Und wir dürfen nur auf Anweisung der BA handeln“, so Arge-Sprecher Horst Weise. Die Weisung zum Vorgehen gegen Lohnwucher habe die Bundesagentur im Übrigen „erst Ende Januar“ erstellt. Die Angelegenheit sei bei der Hamburger Arge „in Bearbeitung“, man habe sogar einen Mitarbeiter nach Stralsund geschickt, um sich dort persönlich zu informieren.
Warum die Kollegen im Nordosten seit anderthalb Jahren erfolgreich gegen unanständige Arbeitgeber vorgehen können und dafür keine Weisung der Bundesagentur für Arbeit benötigten, das wusste der Hamburger Arge-Sprecher nicht zu erklären.
Text: Ulrich Jonas
Foto: Tanja Kernweiss