Die Helden von Kopenhagen

Eine Woche Urlaub von der Realität: Beim Homeless World Cup wurden Obdachlose zu Superstars

(aus Hinz&Kunzt 175/September 2007)

Zum 5. Homeless World Cup (HWC), der Fußball-WM der Obdachlosen, kamen Anfang August 500 Spieler aus 48 Nationen nach Kopenhagen. Ein riesiges Fest von Menschen, die sonst wenig zu feiern haben.

Die Spielerunterkunft ist edel. Eine Jugendherberge zwar, aber „5 Sterne“. Mit Kaffee-Bar und übergroßem Flachbildschirm an der Wand. Spieler in bunten Trikots drängeln sich in der Lobby des Hostels in der Innenstadt von Kopenhagen.

Als die schottische Nationalmannschaft kommt, brandet Applaus auf. Torwart Frank Brodie mit blondierten Haaren, der während des Turniers zum Publikumsliebling wurde, ist in die Nationalflagge gewickelt. Ein paar schottische Fans, die bei Latte Macchiato das Turnier diskutieren, wollen Autogramme.

Der Triumphzug führt vorbei an vier Polen, die in einer Ecke hocken. Ein Mädchen hat noch die rot-weiße Bemalung von der verlorenen Schlacht im Gesicht. Riesenkerle, diese polnischen Spieler. Oberschenkel wie Baumstämme, körperlich allen anderen überlegen. Viele – auch die Mannschaft selbst – hätten dem polnischen Team den Weltmeistertitel zugetraut. Aber im Finale hatten sie nicht einmal ansatzweise eine Chance gegen die zaubernden Schotten. Die „Polska“-Rufe wurden leiser, die polnischen Fahnen wehten nicht mehr. Die Mehrheit der knapp 1000 Fans auf dem Kopenhagener Rathausmarkt war sowieso für die flinken Highlander. Schließlich hatten die Polen die dänischen Lokalmatadore mit 14:1 Toren gedemütigt.

Vor ein paar Tagen reichte noch ein Blick aufs Trikot, um zu wissen, wen man in welcher Sprache ansprechen muss. Mittlerweile funktioniert das nicht mehr, zu oft wurden die Trikots getauscht. „Ich habe noch nie so schnell Freunde gefunden“, sagt Paolo. Er ist „Cartonero“ in Buenos Aires, lebt davon, Müll zu sortieren. Sein Leben spielt sich sonst nicht in Hotellobbys ab. Es dreht sich darum, genug Geld für ein Zimmer in einer Pension zusammenzubekommen.

Heute, am letzten Tag des Homeless World Cup, liegen nicht nur Triumph und Erschöpfung in der Luft. Jeder spürt die Wehmut: ein letzter Tag Urlaub von der Realität.

Eine Woche Obdachlosen-WM sind vorbei. Wenn Dänemark spielt, bebt der Rathausmarkt. „We are red, we are white, we are danish dynamite“, skandiert die Menge – übrigens erstaunlich viele weibliche Fans. Rot-weiß geschminkt, wie die Polen.

Beim Elfmeterkrimi gegen Kasachstan, am dritten Spieltag, hatten sich die Dänen in ihre Mannschaft verliebt. Schmerzverzerrte Gesichter, wenn die Kasachen ausgleichen. Am Ende der Schrei aus 1000 Kehlen, als Torwart Nielsen den entscheidenden Ball hält. Die kommenden Tage ist der Arbeitslose aus Kopenhagen ein bisschen Nationalheld.

Natürlich kocht die Stimmung nicht an jedem Tag. Wenn es regnet und sich viele Fans unter die Dächer der Hotdog-Buden verziehen, stehen oft nur ein paar Grüppchen Afrikaner auf den Tribünen, eingehüllt in die Nationalflaggen.

Man sagt: Was zählt, ist auf dem Platz. Da sind die Deutschen nur Mittelfeld. Am Ende landen die sieben Spieler auf dem 23. Platz. „Das ist, was wir uns vorgenommen haben“, sagt Trainer Dieter Hollnagel. Mehr sei mit den Mitteln, die die deutsche Nationalmannschaft hat, nicht drin – andere Mannschaften trainieren das ganze Jahr, die deutschen Spieler lernen sich erst kurz vor dem Turnier kennen.

Dafür hatte die deutschen Mannschaft die treuesten Fans. Extra mit zwei Bussen mitgereist aus Hessen und Kiel. Bei jedem Spiel maschieren sie von der Jugendherberge mit Trommeln zum Rathausmarkt. Schwarz-weiße Trikots, schwarz-rot-goldene Hüte und Perücken. Dazu Gesänge:„Oh-ne Deutschland … wär’ hier gar nichts los.“ Die Lokalzeitung aus Darmstadt kann später den Ball nicht mehr flachhalten und macht die 14 mitgereisten Fans zu Botschaftern eines „anderen, fröhlichen und toleranten Deutschlands“.

„Es ist doch Ehrensache, dass wir die Jungs unterstützen“, sagt Wolfgang, der seit 18 Jahren immer wieder Platte macht. Viele der Fans hätten selbst die Chance gehabt, beim HWC dabei zu sein. Sie spielen bei den „Elf-Fuffzich-Kickerz“, waren auch bei der Deutschen Obdachlosen Meisterschaft, schafften allerdings die Nominierung nicht. Traurig, nicht auf dem Platz zu sein, scheint keiner: „Nö, für die ist das Stress – wir können in aller Ruhe Fußball genießen.“

Auch für die mitgereisten Sozialarbeiter ist es eine neue Erfahrung, Obdachlose so zu sehen. Stephanie Belling: „Wenn ich einen Spieler nach dem Match umarme, ist er für mich kein Klient, sondern ein Nationalspieler, der eine gute Leistung gezeigt hat.“

Den letzten Gegner hat die deutsche Mannschaft dann so im Griff, wie sie es sich vorgestellt hatte. Ein Schützenfest gegen die Slowakei, das 6:1 ausgeht. Nur einmal, als zwei Störer über die Absperrungen aufs Spielfeld springen und ihre Hintern entblößen, kommt etwas Aufregung auf.

Nach dem Spiel sitzt Spieler Murat Celik minutenlang abseits, das Gesicht in die Hände gestützt. Das letzte Spiel als Nationalspieler auf dem Platz. Das letzte Mal gefeiert werden. Das letzte Mal der Gesang der Fans: „Wir woll’n den Murat sehen.“ Für Murat so etwas wie das Ende eines Lebensabschnitts. Seit ein paar Monaten hat er eine Wohnung – zusammen mit seiner Freundin. Seit acht Monaten hat er eine kleine Tochter. „Klar, da freu ich mich auch wieder auf zu Hause.“

Er ist zum zweiten Mal mit bei der WM, ein drittes Mal darf niemand beim HWC starten. Keine Chance mehr für Urlaub von der Realität. Obwohl: „Vielleicht kann ich ja beim nächsten Mal als Betreuer mit.“

Marc-André Rüssau

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