Im benachteiligten Stadtteil Tenever, in der Gesamtschule Bremen-Ost, probt eines der besten Orchester der Welt. Von der ungewöhnlichen Allianz profitieren Schüler, Musiker und das gesamte Quartier.
(aus Hinz&Kunzt 217/März 2011)
Neun Uhr morgens in Tenever, Gesamtschule Bremen-Ost (GSO). Voll konzentriert stimmt Matthias Cordes seine Geige. Der 50-Jährige ist Violinist der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen und hat hier, mitten zwischen den Klassenräumen, seinen Arbeitsplatz. Das Orchester, übrigens eines der führenden weltweit, hat vor vier Jahren seine Proberäume in die Schule verlegt – ein einzigartiges Arrangement. Vor dem Umzug kannte Cordes, wie die meisten seiner Kollegen, Tenever lediglich vom Hörensagen. Er wusste nur, dass der Stadtteil arm und vor allem von einer großen Hochhaussiedlung geprägt war. „Tenever war immer ein berüchtigter Stadtteil von Bremen“, sagt der Musiker. Viele Kollegen hatten daher anfangs Vorbehalte gegen den Umzug.
In der Tat ist Tenever auf den ersten Blick nicht unbedingt ein Ort für Hochkultur – es ist ein benachteiligtes, sozial schwaches Quartier. Die Hochhaussiedlung, das Herzstück Tenevers, besteht aus Betonblocks aus den 70er-Jahren. Eine klassische Trabantenstadt. Die Bewohner kommen aus 90 verschiedenen Ländern, drei Viertel der Menschen hier haben einen Migrationshintergrund. Über 60 Prozent beziehen
Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld II. „Aber hier in der Schule war sofort so ein Funke da, man merkte, die wollen etwas verändern“, erzählt Cordes. Dazu kam die gute Akustik der Aula, die für das Orchester umgestaltet wurde. Das Ensemble beschloss, den Umzug zu wagen – und hat diesen Schritt nie bereut. Die Kammerphilharmonie profitiere sehr von der engen Zusammenarbeit mit der GSO, findet Cordes. Für junge und wenig privilegierte Menschen zu spielen, mit ihnen gemeinsam zu arbeiten, das halte die Musik lebendig und erde die Musiker: „Inzwischen ist hier unser Zuhause.“
Cordes hat seine Geige fertig gestimmt. Jetzt gilt seine ganze Aufmerksamkeit der Musik. Neben ihm, ebenso konzentriert, sitzt Khanh Phan. Der 17-jährige Schüler nimmt, wie 20 andere Jugendliche auch, an einer Kompositionswerkstatt in der GSO teil. Gemeinsam mit Cordes und einem Komponisten aus Polen erarbeiten die Schüler musikalische Ideen. Khanh Phan spielt die Bongos und ist begeistert von der Möglichkeit, an seiner Schule mit den Musikern der Kammerphilharmonie spielen zu können. „Man kann sich viel
abgucken“, sagt er. „Die sind total hilfsbereit und zeigen uns alles, was sie können.“
Der Kontakt zwischen Musikern und Schülern ist Alltag in der GSO. Denn die Mitglieder der Kammerphilharmonie – allesamt weit gereiste, gestandene Profis – proben nicht nur in der Schule. Sie kommen auch in den Unterricht und stellen ihre Instrumente vor, erzählen aus ihrem Leben oder von ihren Konzerten in New York und Tokio. Gemeinsam mit den Schülern essen sie in der Mensa. Laden ganze Klassen zu ihren Proben ein und setzen die Schüler direkt neben sich ans Notenpult. Gerade für Kinder aus der Hochhaussiedlung, die eher mit Hip-Hop als mit Beethoven aufwachsen, ist das eine enorme Erweiterung des kulturellen Horizonts. „Die kriegen bei uns hautnah mit, wie Musik entsteht und wie sich eine Symphonie anhört“, sagt Cordes. „Das ist ein sehr direkter Kontakt, der ohne viele Worte auskommt.“
Besonders prägend ist es für die Schüler, gemeinsam mit den Musikern und ihren Dirigenten auf der Bühne zu stehen, bejubelt von den eigenen Eltern und dem ganzen Stadtteil. Nichts ist besser fürs Selbstbewusstsein. Diese Möglichkeit bietet sich gerade erneut, denn wie jedes Jahr bereiten Kammerphilharmonie und Schule eine große Aufführung für
Tenever vor. Schüler, Lehrer, Musiker und Bewohner des Stadtteils arbeiten dabei Hand in Hand. Bereits zwei Mal
haben solche Inszenierungen, die Schauspiel und Musik kombinieren, den Stadtteil begeistert und zusammengebracht. Jetzt wird das Stück „Polski Blues“ vorbereitet, das sich am gleichnamigen Roman von Janosch orientiert und Anfang Mai in Tenever Premiere feiert. Das Stück besteht aus mehreren Musik- und Tanznummern, die im Rahmen von Projekttagen von den Schülern entwickelt werden. Die Kinder und Jugendlichen entwerfen selbst die Kulissen und Kostüme. An Projekttagen wie heute fällt für die beteiligten Klassen der Unterricht aus, damit das überhaupt möglich ist. Eine organisatorische Herausforderung für die ganze Schule.
Entsprechend gehetzt läuft Franz Jentschke an diesem Vormittag durch die Gänge. Der Direktor der GSO ist ein engagierter und viel beschäftigter Mann. Wenn der 59-Jährige von der Zusammenarbeit mit der Kammerphilharmonie erzählt, kommt er aus dem Schwärmen nicht mehr heraus. „Es ist atemberaubend“, sagt er. „Ich hätte nie gedacht, welche Eigendynamik das alles haben würde.“ Dass die Kammerphilharmonie in die GSO kam, war eher ein glücklicher Zufall. Die Schule sollte saniert werden, die Stadt wollte einige Gebäude abreißen. Jentschke protestierte energisch und bekam plötzlich die Idee präsentiert, ein Orchester in seiner Schule aufzunehmen – die Kammerphilharmonie war zu dieser Zeit auf der Suche nach einem neuen Zuhause. „Die von der Stadt hatten wohl damit gerechnet, dass ich ablehne“, sagt Jentschke mit einem Schmunzeln. „Aber ich habe sofort
gesagt: Das ist sensationell, das machen wir.“
Wie die Schule mit dem zusätzlichen Trubel umgehen solle, hätten ihn die Zweifler sofort gefragt, erzählt Jentschke. Ein berühmtes Orchester in der Schule schafft nämlich nicht nur neue Möglichkeiten, sondern auch zusätzliche Arbeit für Lehrer, Hausmeister und Schulleitung. Jentschke lacht. „Sie brauchen halt ganz viele verrückte Leute“, sagt er. Und der Erfolg gibt ihm recht: Die Zusammenarbeit zwischen Kammerphilharmonie und Schule wurde schon 2007 mit dem Zukunfts-
award für die „beste soziale Innovation“ ausgezeichnet.
Seit das Orchester eingezogen ist, spielt Musik eine wesentlich größere Rolle in der GSO. Jedes Jahr hat „die Schule mit dem Orchester“ mehr Anmeldungen als freie Plätze. Die Schule ist mit ihrem künstlerischen Profil auch für gut situierte Eltern aus anderen Bremer Stadtteilen attraktiv. Deshalb kommen Kinder aus allen Schichten in die GSO – zum allseitigen Vorteil. Und die Konzerte, die das Orchester im Stadtteil gibt, bringen Leute nach Tenever, die es sonst niemals in diese Gegend verschlagen würde. „Früher war hier am Wochenende alles tot“, erzählt Jentschke. „Wenn Sie heute hier am Sonntag spazieren gehen, dann sitzen draußen die Musiker mit ihren Instrumenten, wir haben die Konzerte hier, und Sie wissen sofort: So muss es sein.“ Das Orchester tut nicht nur dem Image der GSO gut, sondern auch dem Image Tenevers.
Das ist auch der Grund, warum Joachim Barloschky ein Fan der Kammerphilharmonie ist. Mit blitzenden Augen geht der 59-Jährige durch die Schule und beobachtet, welche Fortschritte die Klassen bei ihren Vorbereitungen machen. Barloschky, den in Tenever alle nur „Barlo“ nennen, setzt sich als Aktivist und Quartiersmanager schon seit 1981 für seinen Stadtteil ein. Dass heute ein Orchester von Weltruhm hier seinen Sitz hat, ist für Barlo der Lohn für seine Mühen. Das Tüpfelchen auf dem i. „Wir haben die Deutsche Kammerphilharmonie in Tenever, die sonst in Tokio, New York und London spielt. Und jetzt spielen sie mit unseren Kids in unserer Schule“, sagt er, wobei sich seine Stimme vor Begeisterung fast überschlägt. „Und sie sorgen für richtige gesellschaftliche Höhepunkte, wenn sie einmal im Jahr ihre Großveranstaltung mit den Schülern mitten in Tenever machen.“
Barlo ist ein hagerer Mann in Flanellhemd und abgewetztem Sakko. Das heutige Tenever ist sein Lebenswerk. Seit 1990 ist der Betriebswirt als Quartiersmanager eine zentrale Figur im Stadtteil – linker Aktivist, Sozialarbeiter und guter Geist der Anwohner in einem. „Wir sind hier eigentlich genauso wie Menschen überall sonst auf der Welt“, sagt er. „Wir lachen und weinen, haben Power oder sind apathisch. Aber Tenever hat fünf Besonderheiten: Wir sind hoch, wir sind jung, wir sind international, wir sind arm, wir sind engagiert.“ Barlo erzählt aus der Geschichte des Stadtteils, um diese
Besonderheiten zu erläutern. Und um klarzumachen, warum er so stolz auf alles ist, was das Quartier bis heute erreicht hat. Gebaut zwischen 1970 und 1975, sollte im Vorzeigeprojekt Tenever das Wohnen der Zukunft demonstriert werden.
Häuser mit bis zu 21 Stockwerken entstanden. Schon in der Bauphase wurde klar, dass die Planungen kurzsichtig waren: Bremens Bevölkerung wuchs nicht wie erwartet, nur die Hälfte der geplanten 5000 Wohnungen wurde überhaupt gebaut. Zudem waren die Wohnungen für Familien mit zwei Kindern vorgesehen, Single-Haushalte oder türkische Großfamilien waren nicht eingeplant. Bald galt Tenever als gescheitertes Projekt – Bremens Bausünde. Ein Fiasko aus Beton.
Zudem versuchten die Wohnungsunternehmen, das große Geld in Tenever zu machen. „Wohnen ist ein Menschenrecht, für die Besitzer aber auch eine x-beliebige Ware, mit der man Rendite macht“, erklärt Barlo. „Und dann gilt das Prinzip: möglichst wenig Instandhaltung und möglichst viel Miete.“ Ständig wechselten die Hausbesitzer. Wer es sich leisten konnte, zog weg. Dafür kamen die Immobilien-Spekulanten. „Die haben mit Tenever Monopoly gespielt“, sagt Barlo. Das Ergebnis um das Jahr 2000: 65 Prozent Leerstand, hohe Arbeitslosigkeit, Jugendkriminalität. Tenever war zum Problemviertel verkommen.
Die Wende kam mit dem „Stadtumbau West“. Schon seit Mitte der 90er-Jahre hatte sich die Stadtteilgruppe Tenever, die Barlo mitbegründet hatte, für umfassende Sanierungen eingesetzt. „Wir haben aktive Bewohner“, sagt er. „Wir kämpfen, wir gehen auf die Straße, wir fordern unsere Rechte ein.“ Zuerst seien sie jedoch auf taube Ohren gestoßen. „Die haben uns gefragt: ‚Millionen Staatsknete für einen verarmten Stadtteil? Seid ihr besoffen?‘“ Doch irgendwann war die Stadt überzeugt, dass in Tenever etwas geschehen müsste. Ab 2003 kaufte die Stadt die meisten Häuser und sanierte sie, ein Drittel der Wohnblocks wurde abgerissen. Neue Grünflächen entstanden, Luft und Licht kamen zwischen die Blocks. Wo
früher vollgemüllte, graue Hinterhöfe das Bild prägten, gibt es jetzt helle, weinrot gestrichene Hauseingänge.
Dass sich neben der Sanierung der Häuser auch das Klima des Stadtteils geändert hat, liegt aber vor allem am Engagement der Stadtteilgruppe und der Teneveraner. Von der Gestaltung der Freiflächen über die Planung von Fahrradkellern bis zur Farbgestaltung der Hochhäuser – die Anwohner haben sich in alle Entscheidungen eingemischt. Die Stadtteilgruppe begleitete die Sanierungen mit Rat und Kritik. Jeder Bewohner Tenevers kann an den monatlichen Treffen der Gruppe teilnehmen. Das Gremium entscheidet bis heute, für welche Verbesserungen im Stadtteil Geld ausgegeben werden soll. Aktuell sind es jährlich rund 300.000 Euro, die aus unterschiedlichen Förderprogrammen von Bund und Stadt Bremen kommen. Jeder Anwohner, jede Initiative kann in der Stadtteilgruppe einen Antrag auf Finanzierung eines Projekts stellen. Die Entscheidungen werden im Konsens gefällt, jede Idee wird also so lange diskutiert, bis es keinen Widerspruch mehr gibt. Die Zustimmung der Bremer Behörden sei dann meistens eine Formsache, sagt Barlo.
Über 600 soziale Projekte sind in den vergangenen 20 Jahren auf diese Weise gestartet worden – vom neuen Spielplatz über eine Sporthalle und Integrationskurse bis hin zum Kinderbauernhof Tenever. Mal für 500, mal für 200.000 Euro. Es ist diese besondere Kombination aus Sanierung und Aktivierung der Bevölkerung, die den Erfolg der Umgestaltung Tenevers ausmacht, glaubt Barlo: „Wir haben bewiesen, dass man auf diese Weise in einem runtergekommenen Stadtteil eine positive Entwicklung einleiten kann.“
Im großen Probesaal der Kammerphilharmonie ist unterdessen die Hölle los. Fast 300 Schüler wollen sich zum Ende des Projekttages gegenseitig vorführen, was sie heute an Ideen entwickelt haben. Ältere Schüler präsentieren eine Schauspielszene, zwei fünfte Klassen zeigen ihre frisch einstudierte Akrobatiknummer, in der sie eine menschliche Pyramide bilden. Eine neunte Klasse gibt schwungvolle Musik zwischen Klezmer, Swing und Polka zum Besten – ihre musikalische Untermalung für „Polski Blues“. Die Schüler johlen, klatschen und bejubeln sich gegenseitig. In der zweiten Reihe sitzt Barlo. In seinem Gesicht das Lächeln eines Siegers. Das ist sein Tenever.
Text: Hanning Voigts
Fotos: Dmitrij Leltschuk