Zwei Jahre nach der Besetzung durch 200 Visionäre, Künstler und Aktivisten hat die Stadt das Gängeviertel offiziell zum Sanierungsgebiet erklärt. Im Frühling sollen in enger Abstimmung mit den Besetzern die Bauarbeiten beginnen. Für die Initiative geht ein Traum in Erfüllung – auch wenn die Arbeit jetzt erst richtig losgeht.
(aus Hinz&Kunzt 224/Oktober 2011)
Die Musik ist voll aufgedreht. Trotzdem kommt sie kaum gegen die lauten Hammerschläge an. Im Gängeviertel wird mal wieder gebaut und gewerkelt, die zwölf baufälligen Häuser müssen dringend winterfest gemacht werden. In der Fabrik, dem größten Gebäude und Herzstück des Viertels, setzen gerade drei junge Männer neue Fensterscheiben ein. Vor dem Haus präsentiert derweil Erfan Talimi die Porträtfotos, die er hier seit Kurzem ausstellt – direkt an den Klinkerwänden, auf große Platten gedruckt. „Es sind intime Momentaufnahmen, teils von Schauspielern, teils von Menschen, die ich auf der Straße getroffen habe“, sagt der Fotograf. Und dann erzählt er, wie glücklich es alle im Viertel macht, dass in den Verhandlungen mit der Stadt endlich ein Durchbruch erzielt wurde. Noch vor Kurzem seien hier alle angespannt gewesen, weil die Stadt ihnen trotz ihres Engagements kaum richtig entgegenkam. „Jetzt schaue ich in die Gesichter, und der Glanz und die Energie sind wieder da.“
Nach zwei Jahren zäher Verhandlungen haben sich der Senat und die Initiative „Komm in die Gänge“ Anfang September auf einen Sanierungsplan geeinigt. Ab dem Frühjahr wollen sie das Viertel gemeinsam sanieren. Außerdem hat die Initiative sich mit ihrer zentralen Forderung nach Selbstverwaltung durchgesetzt: Der ebenfalls unterzeichnete Kooperationsvertrag sieht vor, dass alle zwölf Häuser nach der Sanierung in die Hand der Genossenschaft übergehen, die die Aktivisten 2010 gegründet haben. Damit, so schreibt die Initiative in einer Pressemitteilung, sei es jetzt möglich, im Gängeviertel einen „kollektiven, offenen und selbstverwalteten Ort zu schaffen“.
Rückblick: Im August 2009 besetzen 200 Menschen die zwölf historischen Häuser zwischen Valentinskamp und Caffamacherreihe und wecken sie mit Diskussionen, Kunst und Kultur aus ihrem Dornröschenschlaf. Sie laden alle Hamburger ein und die kommen zu Tausenden. Schnell hat die Initiative die Öffentlichkeit auf ihrer Seite. Vier Monate später kauft der schwarz-grüne Senat das Viertel für 2,8 Millionen Euro vom holländischen Investor Hanzevast zurück – dessen Plan, die Gebäude für den Bau von Wohn- und Bürohäusern größtenteils abzureißen, ist vom Tisch.
Im April vergangenen Jahres stellt die Initiative ihre Zukunftsvision vor, um deren Umsetzung sie seitdem mit der Stadt verhandelt. Demnach soll das Viertel ein „Möglichkeitsort“ für Hamburg werden: Ein Kulturzentrum mit Bühnen, Werkstätten, Gewerbeflächen, Veranstaltungen und Ateliers – 80 Sozialwohnungen inklusive. Der Aspekt der Selbstverwaltung ist der Initiative besonders wichtig: Wohnen, Kunst und Engagement sollen im Viertel eng zusammenhängen – zur gegenseitigen Inspiration und zur Erprobung alternativer Lebensformen. Im Kooperationsvertrag hat sich die Initiative nun größtenteils durchgesetzt: Bevor das erste Haus fertig ist, soll darüber verhandelt werden, wie die Genossenschaft die Häuser übernehmen kann.
Das Sanierungskonzept steht, der Kooperationsvertrag ist unterschrieben, aber noch ist nicht alles in trockenen Tüchern: Der Wunscharchitekt der Initiative, Joachim Reinig, ist von der Stadt noch nicht offiziell akzeptiert, die 20 Millionen Euro für die Sanierung müssen zum Teil noch beim Bund und bei der EU beantragt werden. Die Baukommission aus Künstlern und Senat wird noch Monate für die Planung brauchen, die Bauarbeiten werden voraussichtlich acht Jahre dauern. Aber es ist klar, dass es weitergeht. Unter den Gängeviertel-Aktivisten ist daher große Freude, aber auch eine gewisse Erschöpfung zu spüren. „Die Erleichterung überwiegt“, sagt Lukas Scheper, während er in der gemütlichen „Teebutze“ in einem der Häuser einen Tee schlürft. „Aber es ist ärgerlich, dass die Stadt sich so lange quergestellt hat. Die Verhandlungen haben dem Viertel unglaublich viel Energie geraubt.“ Er sei froh, sagt der 31-Jährige, dass jetzt wieder mehr Kraft für andere Dinge übrig sei – zum Beispiel für die vielen Veranstaltungen, Konzerte und Ausstellungen.
Das sieht Juli Kruppke ähnlich. Die 29-jährige Autorin ist innerhalb der Initiative für das Haus Caffamacherreihe 37–39 verantwortlich, in der sich auch die „Jupi-Bar“ befindet, ein wichtiger Treffpunkt des Viertels. „Die Laune ist durchwachsen“, sagt sie. „Die Vertragsunterzeichnung und die Feier zum zweiten Geburtstag des Gängeviertels waren enorme Kraftakte.“ Die vielen Arbeitsgruppen und Vollversammlungen hätten sich nur noch um die Verhandlungen mit der Stadt gedreht, obwohl sich eigentlich alle lieber um ihre Projekte kümmern würden: Kruppke zum Beispiel baut seit Monaten eine Bibliothek für das Gängeviertel auf. Stolz zeigt sie auf die langen Regale, in denen sich Romane sowie Sachbücher zu Kunst und Theater stapeln. Was Kruppke am Gängeviertel schätzt, ist der hier entstandene Freiraum, in dem man experimentieren und sich austoben kann. „Ich habe lange in Leipzig gelebt, da ist es viel einfacher, unkommerzielle Projekte umzusetzen“, sagt sie. „Hamburg ist als Kaufmannsstadt halt sehr gewinnorientiert.“ Und dann sagt sie etwas, was man hier öfter hört: „Wir machen hier Stadtentwicklung von unten. Jeder soll herkommen können und die Möglichkeit haben, seine Stadt zu gestalten. Nicht nur der, der es sich finanziell leisten kann.“
Dieser politische Aspekt des Gängeviertels ist es, der auch Hannah Kowalski besonders am Herzen liegt. Die 29-jährige Regisseurin, die von Anfang an Teil des Gängeviertels ist, ist momentan ebenfalls ziemlich erschöpft. „Das ist ein Dauerzustand hier“, sagt sie. „Wir machen seit zwei Jahren einen kostenlosen Ort für Kultur und Politik und dazu kommen noch die Gespräche mit der Stadt.“ Das ehrenamtliche Engagement habe sie in den letzten zwei Jahren oft an ihre Grenzen gebracht, sagt Kowalski. „Ich hatte kaum noch Zeit zum Arbeiten und habe von meinem Dispokredit gelebt. Und damit bin ich hier nicht alleine.“ Dennoch ist sie begeistert von der Energie, die das Viertel freisetzt. Es werde zusammen gearbeitet, Kunst geschaffen und gekocht. Außerdem entstehen im Viertel politische Projekte wie der mittlerweile bundesweit kopierte „Leerstandsmelder“. „Und wir sind sozial sehr durchmischt“, sagt Kowalski. „Wir haben viele Menschen, die ungewöhnliche Lebensläufe haben und hier wieder eine Aufgabe finden.“ Sie wünscht sich, dass das Viertel keine Künstlerkolonie wird, sondern auch nach der Sanierung ein Ort für Kritik, Debatten und alternative Lebensformen bleibt – ein Gegenpol zu Kommerz und Bürogebäuden. „Hier kann man lernen, dass Kollektive funktionieren können“, sagt Kowalski. „Man kann praktisch erfahren, dass unkommerzielles Zusammenleben wirklich möglich ist.“
Text: Hanning Voigts
Foto: Mauricio Bustamante