Der Homeless World Cup war für Hinz&Künztler Artur Walencik ein Ausflug in eine andere Welt – doch die Realität hat ihn schnell wieder eingeholt
(aus Hinz&Kunzt 191/Januar 2009)
Dass er wirklich nach Australien zum Homeless Worldcup fliegt, hat Artur Walencik erst geglaubt, als er im Flugzeug saß. Die Zeit auf dem fünften Kontinent war für ihn etwas ganz Besonderes. Zum ersten Mal einen Ozean überflogen, Koalas gestreichelt, Pinguine gesehen, im Dezember am Strand gegrillt, einer Generalkonsulin die Hand geschüttelt, eine Nation auf dem Spielfeld vertreten, vor mehr als tausend Zuschauern Fußball gespielt, Autogramme gegeben, mit Jubelrufen gemeint sein. Kleine Puzzleteile großen Glücks, die Artur als Erinnerungen in seinem Herzen und in Hunderten Bildern auf seiner Digitalkamera – extra vom Gesparten gekauft – mit sich trägt.
„Da war ich kein Obdachloser, kein Arbeitsloser. Ich war wichtig. Das war ich noch nie“, sagt Artur. Der 35-Jährige ist ein guter Fußballspieler, ein schneller Sprinter, ein treffsicherer Schütze, ein Teamplayer. „Ich war stolz auf meine Kollegen und sie waren stolz auf mich. Wir haben uns gegenseitig Kraft gegeben. Die haben gesagt: ,Du gehörst zu uns. Egal ob wir verlieren oder gewinnen, wir stehen zusammen.‘“ Artur hält inne. Er lächelt und sagt: „Das war schön.“
Artur und seine Mitspieler stehen in Melbourne ziemlich unter Druck. Der Trainer ist ehrgeizig, sie selbst sind es auch. Das heiße, trockene Klima in Australien macht Höchstleistungen sehr schwierig. Aber die deutsche Mannschaft kämpft sich durch die Vorrunde und wird schließlich die zwölftbeste von 56 teilnehmenden. „Ein optimales Ergebnis für unser kleines Team“, findet Artur. Er ist optimistisch, er verliert nach einer Niederlage nicht den Mut. Auch nicht, als sie vom kenianischen Team mit zwölf zu zwei Toren vom Platz gefegt werden. Erst recht nicht, als sie gegen Irland verlieren – da läuft er nach dem Match noch eine Ehrenrunde mit der irischen Flagge. Für Artur zählt die nächste Aufgabe, die nächste Chance zum Sieg. Bevor der Schiedsrichter das Spiel nicht abgepfiffen hat, ist noch Zeit zu kämpfen. „Bis zur letzten Minute Kopf hoch“ ist sein Motto – und nicht an vergangene Niederlagen denken.
Artur hat es nicht geschafft, seinen Optimismus über den großen Teich bis nach Deutschland zu retten. In sein 35 Quadratmeter großes Appartement in Harburg. An seinen Verkaufsplatz in Buchholz. In sein Leben, in dem er ein Obdachloser war und ein Arbeitsloser ist.
2001 kam Artur das erste Mal nach Deutschland, weil er dachte, dass er hier mit guter Arbeit gutes Geld verdienen könnte. Dafür ließ er in Polen seine Frau zurück, die Ehe zerbrach schließlich. Obwohl er schnell Deutsch gelernt und in Polen eine Ausbildung zum Schiffsbauer gemacht hat, reicht es in Hamburg nur zu Gelegenheitsjobs. Mehrere Monate lebt Artur auf der Straße, bis er erst bei einer Bekannten unterkommt und schließlich eine eigene kleine Wohnung findet. Zuletzt hielt er das Büro eines Steuerberaters stundenweise in Ordnung, verdiente sich so etwas Geld. Mit dem Lohn und dem Hinz&Kunzt-Verkauf konnte er seine Miete sicher bezahlen.
Nach zwei Wochen Australien, in denen er nicht gearbeitet hat, sieht es jetzt finanziell düster aus. Der Steuerberater hat eine andere Aushilfe angeheuert. Artur muss versuchen, allein vom Zeitungsverkauf seine Miete zu bezahlen – sonst steht er wieder auf der Straße. Er fürchtet sich vor dem neuen Jahr, weil der Verkauf nach der Weihnachtszeit erfahrungsgemäß schleppend läuft. Er wünscht sich eine feste Arbeitsstelle, die ihm wieder Sicherheit und Selbstvertrauen gibt – doch er hat keine Arbeitserlaubnis. Er würde alles geben, seinen ganzen Einsatz – und ein bisschen mehr. So wie er es beim World Cup gemacht hat. Doch im Moment erscheint Artur alles sehr trostlos, nachdem er zwei Wochen auf der Tausende Kilometer entfernten
Sonnenseite war. „Vor Australien konnte ich mein Leben akzeptieren. Es lief mal besser und mal schlechter. Jetzt ist alles doppelt schwer“, sagt Artur. „Eine andere Welt“ nennt er Australien und meint: eine bessere Welt. „Megahammer Landschaft“ in Down Under statt Harburger Tristesse. Gut gelaunte, braun gebrannte Gesichter, die „immer lachen“. Erste-Sahne-Wetter rund ums Jahr statt Grau-in-Grau in Norddeutschland. Und: „Jede Menge Jobs, nur ein Prozent Arbeitslosigkeit – oder weniger.“ Sofort würde Artur auswandern, in dieses freundliche, sonnige Land auf der anderen Seite des Globus. Doch er hatte nur ein Besuchervisum fürs Paradies.