Hinz&Kunzt-Autorin Misha Leuschen liebt ihren Kiez. Nun muss sie zusehen, wie Barmbek rund um die „Fuhle“ und den Bahnhof immer gammeliger wird. Doch dagegen wehren sich die Bewohner des Stadtteils mit Händen, Füßen und Nasenklammern.
(aus Hinz&Kunzt 223/September 2011)
In den vergangenen Monaten habe ich am ehemaligen Hertie-Kaufhaus an der Fuhlsbüttler Straße regelmäßig die Straßenseite gewechselt. Der Gestank nach Urin und Schlimmerem ist dort unbeschreiblich; die Eingänge sind vermüllt, Flaschen, Dreck und Spritzbestecke liegen herum. Wie der Zustand drinnen sein mag, möchte ich mir gar nicht vorstellen. Sogar die Krawallmacher machen einen großen Bogen um den Gammelkasten. In den zwei Jahren, in denen das frühere Kaufhaus jetzt leer steht, ist erstaunlicherweise nur eine Scheibe zu Bruch gegangen.
Zugegeben: Schön war das Kaufhaus im Ufo-Look nie. Aber jeder ging hin, auch weil es direkt am Barmbeker Bahnhof so günstig liegt. Meine hochbetagte Nachbarin traf sich dort jahrelang jeden Morgen mit ihren ebenso betagten Freunden zum Frühstück. Mein toller Langschlitztoaster stammt aus der Elektroabteilung, am Käsetresen gab es den leckersten Pfeffer-Pecorino. Alles vorbei: Wenn ich heute so was Profanes wie Knöpfe oder einen Reißverschluss kaufen will, muss ich in die Stadt, nach Wandsbek oder in die Hamburger Meile fahren. Für Knöpfe!
Abhilfe ist nicht in Sicht. Die Eigentumsverhältnisse des maroden Gebäudes werden zurzeit vor Gericht geklärt, das kann und wird dauern. Eine Zwischennutzung wie bei anderen Hertie-Häusern wird es nicht geben, dazu ist das Gebäude zu sehr heruntergekommen. Klar ist lediglich, dass das Ex-Kaufhaus in bester Geschäftslage ein Spekulationsobjekt ist, mit dem gutes Geld verdient werden kann.
Das stinkt den Gründern der „Barmbek Initiative“: dem Buchhändler Ulrich Hoffmann und Giovanni Sciurba, Geschäftsführer einer Consultingfirma. „Wir wollen wissen, wo-rauf wir uns in den nächsten Jahren einstellen müssen“, sagt Hoffmann und versucht es mit Galgenhumor: „Vielleicht löst sich das Haus durch den Urin irgendwann von selbst auf.“ Weil sie darauf nicht warten wollen, riefen sie Anfang 2011 zu einer Versammlung ins Gemeindehaus der Auferstehungskirche – und es kamen so viele, dass die Stühle nicht reichten. Wegen des Wahlkampfs saßen Politiker aller Parteien auf dem Podium, ließen den geballten Unmut der rund 250 Barmbeker über sich ergehen und gaben schließlich gemeinsam eine politische Bankrotterklärung ab: Sie könnten gar nichts tun, erklärten sie in ungewohnter Eintracht, wegen der ungeklärten Eigentumsverhältnisse.
So viel Passivität brachte die sonst so langmütigen Barmbeker in Scharen auf die Straße. Mitte Juni 2011 demonstrierten rund 200 Anwohner mit Plakaten und Trillerpfeifen lautstark mit einem Marsch rund um das Gebäude. Dabei sind die Forderungen der Initiative so moderat und bodenständig wie die Barmbeker selbst: Mehr Sauberkeit und Sicherheit um das Gebäude herum, ein Ende des Wildplakatierens und eine Beleuchtung des Hauses im Winter erwarten sie. „Wir haben sehr lange Geduld gehabt“, findet Anwohnerin Monika Reuer. „Nun versuchen wir, die Behörden und die Eigentümer mit unseren Aktionen aus der Reserve zu locken, sonst passiert ja nichts. Der Zustand ist untragbar.“ Für sie ist vor allem eins besonders wichtig: „Man soll nicht nur meckern, sondern auch Verantwortung für seinen Stadtteil übernehmen und dann im Rahmen seiner Möglichkeiten handeln.“
Das möchten viele Barmbeker tun, wenn sie wüssten, wie. Denn sie leben gern hier – so wie ich. Ich mag die roten Klinkerbauten und das viele Grün. Wenn ich nachts bei offenem Fenster schlafe, dann höre ich den Bach in unserem Gemeinschaftsgarten plätschern, morgens weckt mich Entengequake, mitten in der Stadt. Seit 25 Jahren wohne ich hier und habe miterlebt, wie eine damals graue, überalterte Schlafvorstadt aus dem Dornröschenschlaf erwachte mit netten kleinen Läden und Cafés, mit neuen, familienfreundlichen Konzepten zum Wohnen und Arbeiten. Ein moderner Feinkostladen kann sich heute tatsächlich ebenso halten wie der Ökoladen oder das alteingesessene Fahrradgeschäft; wir haben unseren Edel-Italiener, eine gemütliche Weinstube und seit einiger Zeit sogar einen türkischen Laden für Gardinen – für Barmbek geradezu extravagant. Doch die Menschen haben Sorge, dass der Stadtteil nun ins Rutschen kommt und dass der Verfall des Hertie-Hauses der Startschuss war.
Denn Anwohner und Geschäfte an der Fuhle kämpfen nicht nur gegen den „Schandfleck“, sie kämpfen auch für einen lebendigen Stadtteil mit attraktiven Geschäften. Aber das ist nicht leicht. 30 Prozent Umsatzeinbuße beklagt Buchhändler Hoffmann seit dem Leerstand. „Im Winter, wenn das Haus wie ein großer dunkler Klotz da steht, ist es besonders bedrückend. Da kommt keiner hier zu uns rüber“, erzählt er. An manchen Tagen fragt er sich ernsthaft, wie lange kleine Einzelhändler wie er hier noch durchhalten können.
Diese Sorge treibt auch Easy Emami um. Um die Ecke des „Schandflecks“, in der ehemals ruhigen Pestalozzistraße, betreibt er seit 2005 seine schöne Eisdiele „Terrazza“. Sein Eis aus griechischem Joghurt mit Honig ist mein Sommerfavorit. Easy hat schlechte Karten: Seine Eisdiele liegt im Dunstkreis der Hertie-Ruine. Und gleich daneben sind die Bahnsteige des wohl gruseligsten Busbahnhofs Hamburgs. Trinkhallen, Ramschbuden, Dreck und Gestank machen das Warten auf den Bus dort zur Nervenprobe. Die beiden öffentlichen Toiletten sind eine Farce, nur unregelmäßig geöffnet und verkommen. Deshalb wird in die umliegenden Straßen uriniert – auch direkt vor Easys Terrasse; das setzt ihm gehörig zu. An einem heißen Tag, wenn die Sonne voll auf dem Gebäude steht, trägt der Gestank bis zur Hauptstraße.
Vielleicht hat sich das Thema schon bald erledigt: Vor Easys Ladentür wird eine Großbaustelle entstehen. Denn nach 20 Jahren Planung und Hinhaltetaktik wird nun der Barmbeker Bahnhof saniert. Der marode Busbahnhof soll abgerissen werden, neue moderne und helle Busbahnsteige den Bahnhof flankieren. Die ersten Arbeiten an der Hufnerstraße und am Wiesendamm für eine neue Verkehrsführung sind abgeschlossen. Nun ist die Fuhle dran, und das im südlichen Abschnitt gleich mit einer monatelangen Vollsperrung zwischen Wiesendamm und Drosselstraße. Damit liegt Easys Laden mitten in einer Baustelle, und in Zukunft werden seine Gäste auf Busse im Minutentakt blicken können, die sich dort – in Konkurrenz mit Autos, Fußgängern und Radfahrern – in einen Kreisverkehr einfädeln werden. Nun will er sich einen Job suchen – „eine Festanstellung, irgendwas, zum Amt gehen ist nicht mein Ding“ – und seine Eisdiele nur am Wochenende öffnen. Denn Easy liebt den Laden und will seine treuen Stammkunden nicht hängen lassen. „Aber ich muss auch an meine Familie denken, ich bin Alleinverdiener.“
Dass etwas passieren muss, finden alle, und wenn die Bauarbeiten abgeschlossen sein werden, wird die Neugestaltung sicher ein Gewinn für den Stadtteil sein. Über das Wie wird indes leidenschaftlich gestritten. Der Wegfall von Parkplätzen, die neue Trassenführung der Busse, die Radwege auf der engen Straße, die fehlenden Zebrastreifen – die Mängelliste der Bürger ist endlos. Das größte Problem ist allerdings die mangelhafte Informationspolitik des Bezirks, so finden betroffene Anwohner. „Wir erfahren nichts, wir fühlen uns nicht gesehen und schlecht vertreten“, empört sich Hoffmann. Auch sein Laden ist von der Vollsperrung betroffen. „Ich finde, der Bezirk hat eine Informationspflicht den Bürgern gegenüber – und eine Pflicht, sich mit der Initiative auseinanderzusetzen.“ Der mangelnde Respekt kränkt ihn: „Der Bezirksamtsleiter Wolfgang Kopitzsch redet lieber mit der Presse als mit uns. So darf man mit Menschen nicht umgehen.“
Vielleicht ändert Ulrich Hoffmann seine Meinung über den Bezirk ja noch, denn der bewegt sich. Mitte August – pünktlich zum zweijährigen Jubiläum des Leerstandes – rückte ein Reinigungstrupp des Bezirksamtes an, warf den Hochdruckreiniger an, entfernte in mühevoller Arbeit die dicken Lagen Plakate von den Fenstern und schrubbte den Dreck rund ums Gebäude gleich mit weg. Sogar die defekte Fensterscheibe wurde repariert. Die Barmbeker sind baff. „So gut hat es hier seit Monaten nicht gerochen“, sagt ein älterer Mann im Vorbeigehen. So blitzblank, dass man sich in den Scheiben spiegeln kann, habe ich den „Schandfleck“ seit Jahren nicht gesehen. Warum das plötzlich möglich war? „Die Menge der wilden Plakate stellt eine Störung der öffentlichen Ordnung dar und war der Grund, warum das Bezirksamt jetzt eingeschritten ist“, erklärt Heino Fölser, beim Bezirksamt Nord zuständig für das Management des öffentlichen Raumes. Die Kosten der Reinigung in Höhe von 3000 Euro trägt die Stadt, allerdings nur für dieses Mal. „In Zukunft werden die Kosten sofort den Verursachern in Rechnung gestellt“, sagt Fölser. Um sicherzustellen, dass das Hertie-Haus nicht wieder so vermüllt, wird der Bezirkliche Ordnungsdienst (BOD) täglich dort patrouillieren. Der wurde erwartungsgemäß prompt fündig: Gleich am Wochenende nach der Reinigungsaktion war sich ein Musikverlag nicht zu blöde, das Kaufhaus wieder flächendeckend zu plakatieren. Ob und von wem die Plakate in Zukunft entfernt werden, wird sich zeigen.
Immerhin: Für die missliche Toilettensituation wird es ab November eine Lösung geben. Nach dem Abriss der maroden Toilettenanlage an der Pestalozzistraße wird dort eine Container-Toilette im Format drei mal neun Meter errichtet, „mit einer Herren-, einer Damen- und einer Behindertentoilette“, so Fölser. Natürlich sei dies ein Provisorium, „aber ein schickes“, und erst nach dem Ende der Arbeiten rund um den Bahnhof könne eine Toilettenlösung endgültig entschieden werden.
Damit hat die Initiative erste Erfolge erreichen können, aber der Ärger insgesamt wird wohl noch lange nicht aufhören. Denn bis zur Fertigstellung des Bahnhofs wird das Hertie-Haus ein „Schandfleck“ bleiben. Und dass die Umgestaltung der Fuhle gerade erst begonnen hat, dämmert den meisten Anliegern langsam. Bis 2016 soll der Bereich von der Drosselstraße bis zur U-Bahn-Hochbrücke am Heidhörn komplett saniert werden; das bedeutet eine Wanderbaustelle für mehrere Jahre. So richtig schrecken kann das Florian Kruse nicht; seit Jahrzehnten betreibt er sein Reisebüro an der Fuhle und hat schon viele kommen und gehen sehen. „Ist doch schön, dass nach 40 Jahren die Fuhle endlich attraktiver werden soll“, sagt er.
Da hat er recht, finde ich. Ob er und ich das allerdings noch erleben werden, wird sich zeigen. Aber wir Barmbeker sind nun mal unverbesserliche Optimisten.
Text: Misha Leuschen
Fotos: Mauricio Bustamante
Im August 2009 wurde die Hertie-Filiale in Barmbek wegen Insolvenz geschlossen, nun wird vor Gericht darum gestritten, wer der Eigentümer ist. Arcandor (vormals Karstadt-Quelle) wollte das Kaufhaus 2005 an den Investor Dawnay Day verkaufen. Da ein Erbbaurechtgeber dem Verkauf nicht zugestimmt hatte, trat Arcandor vom Verkauf zurück. Bereits vorgenommene Grundbucheintragungen und deren Löschung durch den Käufer stehen dem Weiterverkauf nun im Wege. Zurzeit prüft der Bezirk eine Enteignung.