Aus dem Abseits

In Göteborg spielten 26 Teams von vier Kontinenten um den Homeless World Cup

(aus Hinz&Kunzt 139/September 2004)

„Nip-pon! Nip-pon!“, schallt es Göteborgs Flaniermeile Avenyn hinab. „Fotbolls VM“ ist auf der Tribüne des Hasselblad-Museums in riesigen Lettern zu lesen, „Fußball WM“. Kein Hinweis darauf, dass hier nicht die EM-Stars Larsson und Ibrahimovic spielen, sondern Obdachlose und andere, denen das Leben übel mitgespielt hat.

Die Japaner haben die Gunst des Publikums gepachtet. Sie haben nicht nur von allen 26 Teams die weiteste Reise hinter sich, sondern vor allem sind sie sportlich krasse Außenseiter. „Durchschnittsalter 53“ bedeutet die Teambetreuerin dem staunenden Publikum mit einem Pappschild. Die meisten haben vor ein paar Wochen zum ersten Mal gegen einen Ball getreten. Und dann geht es ausgerechnet gegen den Favoriten Österreich, der 2003 in Graz den ersten „Homeless World Cup“ gewonnen hat. Junge afghanische Asylbewerber spielen für die Alpenrepublik, technisch brillant und höllisch schnell, aber den Herren aus Japan zollen auch sie Respekt. Augen zwinkernd lassen sie sich das eine oder andere Tor einschenken.

Takashi Itoh treibt sein Team unermüdlich an, dirigiert, rackert, schiebt seine Mitspieler in die richtige Richtung – und lächelt. Wenn ihm der Ball an die Hand springt, beißt er verschämt hinein. In der Halbzeit gibt der Mann mit dem weißen Nippon-Stirnband dem johlenden Publikum, was es erwartet: ein paar Karate-Tritte in die Luft. Dabei hat der drahtige 50-Jährige selbst nicht viel zu lachen: Einst besaß er drei Restaurants. Dann starb erst seine Tochter an Leukämie, kurz darauf seine Frau an Kummer, und er selbst landete auf der Straße. Fünf Jahre lang hat er sich in einem Tokioter Park jeden Abend wieder seine Hütte aus Pappkartons gebaut. Bis im vorigen Jahr die Straßenzeitung „Big Issue Japan“ gegründet wurde. „Das hat meinem Leben eine Wende gegeben“, sagt er, ausgepumpt von zweimal sieben Minuten Hochgeschwindigkeitsfußball. Seit März hat er eine Wohnung, zusammen mit fünf anderen Verkäufern. Eisern spart er, um irgendwann wieder ein eigenes Restaurant zu eröffnen. „In Japan lebt man als Obdachloser wie auf dem Grund eines Ozeans: Alles was du einmal für wichtig gehalten hast, zählt nicht mehr. Du bist unsichtbar“, sagt Itoh, „aber ich hoffe, dass ich bald wieder auftauchen werde.“ Staatliche Hilfen für Obdachlose gibt es in Japan kaum, und viele der meist älteren Obdachlosen sind ohnehin zu stolz, sie in Anspruch zu nehmen.

Seinem halb so alten Gegenspieler Mohsen Soltan geht es ähnlich. „Ich schäme mich, zum Sozialamt zu gehen“, sagt der Afghane mit gesenkter Stimme. In Österreich durfte er einen Schulabschluss machen und Programmierer lernen, aber ausüben darf er den Beruf nicht. Ein halbes Jahr lang hat er sich von Afghanistan bis nach Österreich durchgeschlagen, nur um sich dort zu fühlen „wie ein Fisch in einem Glas, der beim kleinsten Steinchen denkt: Da komm’ ich nicht rüber.“ Für ihn ist die Weltmeisterschaft in Göteborg „wie eine Kur: Hier lernen die Leute, wie es schmeckt, zu gewinnen“ – Obdachlose wie Flüchtlinge: „Wir haben doch viel gemeinsam: Wir stehen immer am Rand, haben kein Geld, können nicht reisen.“

Diesmal sind sie gereist und stehen im Mittelpunkt. Die schwedischen Zeitungen berichten ausgiebig, und die Tribünen sind immer besetzt. Sogar Darryl Lynk findet daran Geschmack, obwohl er den Umgang mit Menschen kaum gewohnt ist: Der 37-Jährige lebt allein in den Wäldern Kanadas. Acht strenge Winter hat er schon draußen auf Holzpaletten verbracht, mit vier Decken und dicker Jacke. Der 38-Jährige ist schizophren und sagt, er habe gelernt, mit sich zurechtzukommen, zwischen Realität und Vision zu unterscheiden. Er fürchtet, in der Stadt zwangsweise mit Medikamenten voll gepumpt zu werden.

Anfangs war es für den Einzelgänger ein Kulturschock, mit 150 Spielern aus der ganzen Welt im Katrineholm-Gymnasium untergebracht zu sein. Seine ganze Mannschaft auf Luftmatratzen in einem Klassenraum. Schlange stehen bei der Essensausgabe. Das babylonische Sprachgewirr an allen Ecken: Wie haben die Polen gespielt? Sind die Argentinier doch noch angekommen? Warum durften die Kameruner nicht einreisen? World Cup-Anstecknadel aus Namibia gefällig? Und die Südafrikaner singen den ganzen Tag einen alten Bergarbeitersong – wie eine Endlosschleife.

Darryl hat in den ersten Tagen nicht mal mit seinen Teamkollegen gesprochen. Aber ganz allmählich ist er aufgetaut. Jetzt erzählt er seine Geschichte, ganz unbefangen und unbeirrt von den Trainingsbällen der Deutschen, die immer wieder bei ihm landen. Als er im Spiel gegen Schweden über 1.000 frenetische Fans gegen sich hat, nimmt er es mit einem milden Lächeln. Was soll’s, schließlich spielen sie in Kanada sowieso lieber Eishockey.

Aber auch aus einer echten Fußballnation zu kommen, muss beim Homeless World Cup nichts heißen: Die Spanier zum Beispiel sind mit großen Ambitionen gestartet. Im letzten Jahr waren die Männer von der Straßenzeitung „Milhistorias“ (1000 Geschichten) noch die einzigen, die keinen Sponsor gefunden hatten. Diesmal tragen sie knallrote Sportdresses, vorne mit dem Logo von Coca-Cola und hinten mit dem von Vodafone. Vor dem Turnier wurden sie durch Fernsehshows gereicht, und gerade klingelt wieder das Team-Handy – Spaniens wichtigste Sport-Radiosendung will ein Live-Interview. Die Spieler sind schon ins Bett gegangen, schließlich wollen sie morgen fit sein. Also muss Betreuer Saúl Rodríguez die nationale Begeisterung dämpfen. Nein, sie werden nicht Weltmeister werden, sondern um die Networking Trophy spielen – so etwas wie die dritte Liga in diesem Wettkampf. Aber schließlich haben sie das Reglement auch besonders ernst genommen und nur Spieler aufgestellt, die lange auf der Straße gelebt haben.

Modesto Bayón, der schon im letzen Jahr in Graz dabei war, „wohnte“ damals mit seiner Frau auf der Plaza Quevedo, mitten in Madrid. Während des Turniers räumte die Polizei ihre armselige Habe ab. Inzwischen haben die beiden eine kleine Wohnung gefunden, aber Modesto muss neben seinen zwei Jobs weiter die Straßenzeitung verkaufen, um die Miete in Spaniens boomender Kapitale bezahlen zu können. Aber der hagere Mann mit dem unruhigen Blick beklagt sich nicht. Nur für sein Hobby, Fußballspielen, bleibt ihm viel zu wenig Zeit. Und das, obwohl sie in Madrid an einer eigenen Straßenliga arbeiten, die die Euphorie des World Cups in den Alltag tragen soll.

Die Deutschen sind auch nicht gerade erfolgsverwöhnt: Gegen den hoch motivierten Gastgeber Schweden rutschen sie gleich im Eröffnungsspiel auf regennassem Platz aus. Die Waliser schicken das deutsche Team dann mit britischem Einsatz in die Trostrunde. „Macht doch nichts“, kommentiert Volker Schmitz. „Dabeisein ist alles.“ Früher hätte er es nicht so leicht genommen. Der 37-Jährige hat sein halbes Erwachsenenleben wegen Raub und Totschlag im Knast verbracht. Jetzt ist er fest entschlossen, sein Leben zu ändern. Der Fußball könnte dem Düsseldorfer helfen. „Dabei kann ich mich so richtig auspowern“, sagt er, „besser als bei Kickboxen oder Karate.“ Auch bei Hinz & Künztler Frank Papperitz hält sich die Enttäuschung in Grenzen: „Wir kommen aus fünf Städten und hatten wenig Gelegenheit, zusammen zu trainieren.“ Ihm gibt das Turnier, wie schon im letzten Jahr, „wieder so einen richtigen Kick“.

Für Urgestein Günter Bieda liegt das Abschneiden ohnehin in der Hand des Herrn. Der 43-Jährige mit dem langen blonden Bart, der schon Neonazi, Landschaftsgärtner und Rikschafahrer war und heute mit Vorliebe aus der Bibel zitiert, wurde während des Turniers auf Torwart umgeschult. „Ich werde langsam alt“, witzelt er. Manchmal wirkt er abwesend. Dann träumt er vom nächsten Jahr, wenn er mit dem Rad durch die neuen EU-Länder strampeln will. Der Kontakt mit all den netten Polen, Russen und Ukrainern hat ihn darin bestärkt. Dann wird er wieder auf der Straße leben. „Ich brauche ja nicht viel“, sagt er.

Den Pott recken nach einer Woche schließlich die „Italiener“ in den Göteborger Nachthimmel. Auch wenn die Jungs aus Argentinien, Brasilien und Peru kommen, singen sie im Konfettiregen so lange italienische Schnulzen, bis sich alle in den Armen liegen.

Jan Kahlcke

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