(aus Hinz&Kunzt 180/Februar 2008)
Der Mitternachtsbus fährt die Schlafplätze von Obdachlosen an und versorgt sie mit Essen und Getränken. Zwei Jugendredakteurinnen waren mit auf Tour
19 Uhr. Ein kalter, regnerischer Abend, nur ein paar Grad über null. Ich habe meinen Wintermantel an, aber mir ist kalt. Auf dem Gelände der evangelisch-reformierten Kirche in der Ferdinandstraße treffen wir Jens Schönwandt, einen typischen „Hamburger Jung“ mittleren Alters mit grauem Haar, Bart und Seemannsmütze. Er fährt heute den Mitternachtsbus – ehrenamtlich und voller Enthusiasmus.
Jens zeigt uns den Bus: Die Einrichtung erinnert an die elterlichen Wohnzimmer aus den Achtzigern. Dunkelbraune klobige Schränke und dicke Musterstoffgardinen.
Dahinter befindet sich eine Auswahl an gespendeten Kleidungsstücken, die kostenlos an die Obdachlosen auf Hamburgs Straßen verteilt werden. Wer einen neuen Schlafsack oder eine Isomatte braucht, muss allerdings eine Gebühr von 1,50 Euro bezahlen.
Unser Blick fällt auf die „Getränkebar“: Kakao, Kaffee, Tee, Milch, Zucker und sogar Latte macchiato stehen bereit.
Plötzlich ertönt ein „Moin“ aus dem Hintergrund: Hermann Wilcke, der zweite Mann an Bord, ist da. Er ist ein ebensolcher Sympath wie Jens. Man spürt, dass sich die beiden schon länger kennen. Sie klönen wie zwei alte Schulkameraden. Wir füllen die Thermoskannen mit heißem Wasser, und Jens weist kurz in den Arbeitsablauf ein: „Essensausgabe an der Seite – Getränkeausschank hinten … alles klar?“ „Alles klar!“
20 Uhr. „Dat Backhus“ in der Mönckebergstraße öffnet für uns seine Türen. Lisa Haarmeyer und ich erwarten trockene Brötchen und nicht verkaufte Brotlaibe. Von wegen trockene Brötchen. Wir könnten es mit jedem Partyservice der Stadt aufnehmen. Als wir wieder losfahren, sind wir umgeben von circa 600 Berlinern, belegten Brötchen, Käsestangen, Croissants, Brotlaiben, Rosinenbrötchen, Müslistangen, Kuchenstücken und sogar Fischbrötchen. Die erweisen sich später als Highlight des Abends.
20.40 Uhr. Der erste Halt ist nur einen Brötchenwurf weit entfernt – wir stehen neben Karstadt Sport. Dieser neue Haltepunkt scheint sich aber noch nicht herumgesprochen zu haben, denn lediglich zwei Männer warten dort auf uns. Der eine ist noch ganz jung und sieht gepflegt aus. Als wir ihn fragen, ob er nicht gleich zwei Berliner nehmen wolle, sagt er: „Gerne, wenn’s nicht zu viel Mühe macht.“
21 Uhr. In Altona steppt schon der Bär. Schätzungsweise 25 Obdachlose stehen nahezu artig in der Reihe. Bei einigen würde ich nie denken, dass sie obdachlos sind. Etwa bei dem älteren Mann, der aussieht wie ein Professor, der abends mit einer guten Flasche Wein vor dem Kamin sitzt.
21.40 Uhr. Altonaer Balkon. Während wir den Blick auf den Hafen genießen, gibt Jens per Lichthupe Zeichen in Richtung Wiese, wo ein paar Leute Platte machen.
Darunter auch „Ticket“, den alle so nennen, weil er immer schwarzfährt. Für eine Fahrkarte fehlt ihm vermutlich das Geld. Ticket ist ein netter, lustiger Typ, den Hermann noch von früher kennt.
Zurück im warmen Bus erzählt uns Hermann ein wenig von seiner Geschichte. Wir haben das Gefühl, dass er langsam auftaut. Vielleicht liegt es an den Begegnungen mit seinen Kumpels oder einfach an der Tatsache, dass die Hamburger nun mal ein wenig brauchen, um aufzutauen. Vor fünf Jahren hat Hermann selbst ein Jahr lang Platte gemacht, bis er zum Mitternachtsbus kam. Mittlerweile lebt er in einer eigenen Wohnung und möchte nun, so haben wir den Eindruck, ein wenig von dem zurückgeben, was er selbst durch den Mitternachtsbus erfuhr: Unterstützung und mitmenschliche Wärme.
22.15 Uhr. „Ice“, ein Punk unseren Alters, empfängt uns herzlich an der Kennedy-Brücke, wo er mit Freundin, Kumpels und Hunden Platte macht. Er ist super drauf und verlangt nach einem kräftigen Zuckerschock in Form von Kakao mit Sahne. Er schenkt Lisa als Dankeschön ein Kondom und streicht nahezu verlegen durch seine Dreadlocks, die bei jedem Lacher fröhlich hin und her wippen.
22.30 Uhr. Am Michel warten schon eine Handvoll Obdachlose auf uns. Anne, etwa 40 Jahre alt, streckt uns ihre dünne Hand mit den Worten entgegen: „Wenn ihr mich nicht anfassen wollt, ist das auch okay; viele wollen einen Obdachlosen nicht anfassen.“ Wir schütteln ihre Hand und laden sie auf einen heißen Tee ein, den sie jedoch ablehnt. Sie raucht lieber eine Zigarette und tut das, was die wenigsten vermuten würden: Statt den Zigarettenstummel auf den Boden zu werfen, verstaut sie ihn in einem Taschenascher und steckt diesen zurück in ihre Jacke. Irgendwie aber logisch, denke ich. Ich werfe ja zu Hause auch nicht meinen Müll auf den Boden.
23 Uhr. Zurück in Richtung Innenstadt. Hier halten wir Ausschau nach einzelnen Obdachlosen. Am Jungfernstieg wartet niemand auf uns, aber an der Staatsoper treffen wir eine dünne, ältere Dame mit Hinz&Kunzt-Zeitungen im Arm und Tränen in den Augen. Sie tut uns wahnsinnig leid, doch sie schlägt fast alle Angebote unsererseits aus und begnügt sich mit drei Backteilchen.
Auf dem Weg zum Gerhart-Hauptmann-Platz halten wir noch bei einem „alten Bekannten“ von Jens. Er ist der Einzige, den wir direkt an seinem Schlafplatz versorgen. In einer windstillen Ecke liegt er eingemuschelt in ein paar Decken.
Heraus guckt ein altes, faltiges Gesicht mit grauem Rauschebart. Lisa und ich packen ihm eine Tüte mit Kuchenteilen und Brötchen und bringen ihm warmen Kaffee. Mehr können wir leider nicht für ihn tun.
23.30 Uhr. Circa 25 Obdachlose kommen am Gerhart-Hauptmann-Platz in den Genuss unserer „Happy Hour“, denn es ist noch viel zu viel übrig, um die Bustüren für heute endgültig zu schließen. Darum packen wir großzügig ein paar Tüten voller Kuchen und Brötchen.
Plötzlich schaut uns ein bekanntes Gesicht an: Der junge Mann, der am Anfang unserer Tour bei Karstadt Sport schüchtern um einen Kaffee und einen Berliner bat. Auch jetzt spricht er kaum ein Wort, doch das muss er auch nicht. Denn das Funkeln in seinen Augen und das kurze Lächeln auf seinen Lippen, als wir ihm einfach ein paar Berliner mehr einpacken, sagen mehr als tausend Worte.
0 Uhr. Die Tour ist beendet. Na ja, fast. Der Bus müsste noch zurückgebracht und gesäubert werden. Doch Jens und Hermann sind wahre Gentlemen und setzen uns vorher am Hauptbahnhof ab. Mit vielen neuen Eindrücken setzen wir uns in die Bahn, fahren nach Hause und freuen uns auf das, was uns nach dieser Tour gar nicht mehr so selbstverständlich erscheint: ein warmes Bett, ein gefüllter Kühlschrank und ein Dach über dem Kopf.