Wie zwei Hinz&Künztler beinahe ihre Wohnung verlieren, weil die Ämter im Bezirk Mitte hoffnungslos überlastet sind.
Mitte Juli bekommt Ralf* Angst: „Gut schlafen konnte ich nicht mehr“, erinnert sich der 58-Jährige. Der schlaksige Mann mit der hohen Stirn ist keiner, der gern Gefühle ausbreitet. Doch seine Furcht vor der erneuten Obdachlosigkeit lässt sich auch Wochen später spüren. Anlass der Aufregung: Ralfs Vermieter hat eine Mahnung geschickt, seine Miete für den laufenden Monat sei nicht bezahlt. Er solle das Geld binnen sieben Tagen überweisen. Nur wie?
Rückblende: Mit 16 flieht Ralf aus dem Elternhaus, „meine Stiefmutter war eine Katastrophe“. Es folgen abgebrochene Ausbildungen und Helferjobs. 2004 bekommt Ralf erstmals gesundheitliche Probleme und wird obdachlos. Er beginnt Hinz&Kunzt zu verkaufen und findet bald darauf eine Wohnung. Doch an einen „richtigen“ Job ist nicht mehr zu denken: Erst macht ihm „nur“ das Knie zu schaffen, bald auch ein Bandscheibenvorfall, psychische Probleme, eine schwere Infektion und ein Schlaganfall.
„Aktuell verfüge ich über keine finanziellen Mittel mehr.“
Hinz&Künztler Ralf in einem Brief ans Bezirksamt
Weil das Geld aus dem Verkauf des Straßenmagazins nicht zum Leben reicht, zahlt das Jobcenter ergänzende Hilfe und übernimmt auch Ralfs Wohnungsmiete. Gesundheitlich geht es ihm zunehmend schlechter. Mithilfe von Hinz&Kunzt stellt er einen Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente.
Im Mai dieses Jahres ist der endlich durch. Das bedeutet: Ab Juli ist nicht mehr das Jobcenter, sondern das Grundsicherungsamt (früher: Sozialamt) des Bezirks Mitte für Ralf zuständig. Dieses Amt müsste, weil seine Rente sehr klein ist, die Miete fortan bezahlen, damit er seine Wohnung nicht verliert. Nur: Es geschieht nichts.
Dabei hat der Hinz&Künztler alles richtig gemacht: Im Mai hat er gemeinsam mit Hinz&Kunzt-Sozialarbeiterin Isabel Kohler sofort einen Antrag auf Hilfe eingereicht, als ihn der Rentenbescheid erreichte. Denn der Bescheid machte deutlich: Die Rente fällt so niedrig aus, dass Ralf auf staatliche Hilfe angewiesen bleibt. Doch das Grundsicherungsamt meldet sich nicht. In keiner Weise. Wochenlang.
Immer wieder versucht er vom Büro der Sozialarbeiterin aus, das Amt telefonisch zu erreichen. Vergeblich, bestätigt Isabel Kohler: „Da hebt niemand den Hörer ab.“ Einmal, erzählt Ralf, sei er doch durchgekommen, als er es mit seinem Handy versucht habe. „Da hieß es, mein Antrag sei noch in Bearbeitung.“
Ralf ist verzweifelt. Gemeinsam mit der Hinz&Kunzt-Sozialarbeiterin setzt er deshalb Anfang Juli einen Brief an das Grundsicherungsamt auf und schickt diesen per Einschreiben ab. Darin steht: „Aktuell verfüge ich über keine finanziellen Mittel mehr. (…) Ich bitte Sie, meinen Antrag bis zum 10. Juli zu bewilligen. Sollte die Frist fruchtlos verstreichen, werde ich rechtliche Schritte einleiten.“
Wenige Tage später erreicht ihn das Mahnschreiben seines Vermieters. Ralf ruft sofort bei der Wohnungsbaugenossenschaft an und erklärt sein Problem. Er stößt zum Glück auf Verständnis – doch Sorgen macht er sich trotzdem. Einen Tag nach dem Vermieter meldet sich endlich das Grundsicherungsamt – sieben Wochen nach Eingang des Antrags und erst nach Ankündigung einer Klage. Um über den Antrag entscheiden zu können, schreibt der Sachbearbeiter, müsse Ralf Unterlagen nachreichen. Der Hinz&Künztler stellt gemeinsam mit der H&K-Sozialarbeit die geforderten Papiere zusammen und schickt diese umgehend ans Amt. Ohne Erfolg.
Am 23. Juli geht Ralf erneut zum Bezirksamt Mitte. Gegen 7.30 Uhr reiht sich der Hilfesuchende in eine lange Reihe von Wartenden ein. „Die Schlange ging durch die gesamte Eingangshalle bis raus auf den Bürgersteig.“ Ralf wartet einige Stunden, dann sitzt er endlich einem Sachbearbeiter gegenüber. Der schickt ihn weiter zur Fachstelle für Wohnungsnotfälle im selben Haus: Die könne bei Mietschulden weiterhelfen.
Nach kurzer Wartezeit empfängt ihn dort eine nette Mitarbeiterin. Ralfs Schulden könne die Fachstelle leider nicht begleichen, sagt sie: Es fehle die aktuelle Nebenkostenabrechnung. „Die hatte ich aber noch gar nicht bekommen“, sagt er. Immerhin verfasst die Sachbearbeiterin einen Brief an Ralfs Vermieter, in dem sie bestätigt, dass der „sein Anliegen vorgetragen“ habe. Ralf bittet die Baugenossenschaft um Zusendung der geforderten Nebenkostenabrechnung und schickt diese sofort weiter an die Fachstelle. Dann passiert wieder nichts.
Inzwischen ist der Hinz&Künztler zwei Monatsmieten im Rückstand. „Mein Vermieter hätte mir kündigen können!“, sagt Ralf fassungslos. Und hat recht: Wer seine Miete zwei Monate nicht bezahlt, kann fristlos gekündigt werden – es droht die Räumungsklage. Ralf sagt: „Gedanklich habe ich schon meinen Schlafsack gepackt.“
Auch der ehemalige Hinz&Kunzt-Verkäufer Klaus* ist an den Zuständen im Bezirksamt Mitte beinahe verzweifelt. Der 68-Jährige will im Juli aus einer Wohngemeinschaft im Hinz&Kunzt-Haus in eine Sozialwohnung ziehen – und benötigt dafür einen Wohnberechtigungsschein. Weil das dafür zuständige Wohnungsamt überlastet ist, hat ein Mitarbeiter auf Nachfrage der Hinz&Kunzt-Sozialarbeit dem Hilfesuchenden die persönliche Vorsprache in der Notfallsprechstunde des Amts empfohlen.
Auch Klaus stellt sich weit vor 8 Uhr in die Warteschlange. „Die reichte bis raus auf den Bürgersteig“, sagt auch er. Als der Hinz&Künztler den Empfangstresen erreicht, habe man ihm gesagt: „Wir vergeben erst mal keine Nummern. Bitte warten Sie.“ Später werden noch mal gut 30 weitere Wartenummern vergeben, erzählt Klaus. Er bekommt die 31. Erneut heißt es: sitzen, warten. Es geht inzwischen auf 12 Uhr mittags zu.
Nachdem die Nummer 29 aufgerufen worden ist, hätten die anderen Wartenden eine Ansage bekommen: „Sie können nach Hause gehen. Wir schaffen das heute nicht mehr.“ Klaus bekommt Angst, fragt sich: Wird er die ersehnte eigene Wohnung beziehen können oder kommt er zu spät?
Zwei Tage später stellt er sich erneut in die Schlange. Diesmal hat er Bestätigungen von Hinz&Kunzt und dem Wohnungsvermieter dabei, dass er das Papier dringend braucht. Nach zwei Stunden verliert Klaus die Fassung: Er geht an den anderen Wartenden vorbei zum Tresen: „Ich hab gesagt: ,Ich hab hier schon mal vergeblich gestanden, ich warte jetzt nicht mehr, ich geh hier nicht mehr weg! Ich steh sonst auf der Straße – wollen Sie das verantworten?‘“ Mit der Erinnerung an die Szene kommt die Verzweiflung wieder hoch: „Wenn ich daran zurückdenke, reg ich mich schon wieder auf!“
Der Gefühlsausbruch führt zum Erfolg: Klaus bekommt eine Warte-nummer und noch am gleichen Tag den Wohnberechtigungsschein. Auch Leidensgenosse Ralf kann erst mal beruhigt schlafen: Zweieinhalb Monate nach Antragstellung hat das Amt Mitte August seinen Antrag auf Grundsicherung endlich bewilligt – vorläufig jedoch nur bis Ende September.
Das Bezirksamt Mitte bestätigte Mitte September auf Hinz&Kunzt-Nachfragen, dass Ralfs Antrag sieben Wochen lang offenbar unbearbeitet herumlag und sich das Amt erst dann bei dem Hilfesuchenden meldete, als dieser mit einer Klage drohte. Da noch Unterlagen fehlen würden, „u. a. Nachweis seines Kranken- und Pflegeversicherungsstatus“, sei die Hilfe zunächst nur für drei Monate bewilligt worden. Außerdem: Die Fachstelle für Wohnungsnotfälle habe im August Kontakt zu Ralfs Vermieter aufgenommen „und die Sachlage kurz geschildert“. Die Einschätzung des Amts: „Ein Wohnungsverlust drohte aufgrund des beschriebenen Fallverlaufs nicht.“
Klaus’ Schilderungen seiner Erlebnisse im Eingangsbereich „müssen wir intern prüfen“, so eine Sprecherin weiter. Grundsätzlich sei bekannt, „dass unsere Kundinnen und Kunden teilweise erhebliche Wartezeiten haben und die formalen Anforderungen für Leistungsbezüge sehr umfangreich sein können“. Digitalisierung und Personalabgänge hätten „teilweise zu erheblichen Verzögerungen“ geführt. Das Amt arbeite an Verbesserungen, „dieser Prozess der Neuorganisation ist noch nicht abgeschlossen“.