äthiopischer Journalist Amir Aman Kiyaro

Verschnaufpause in Hamburg

Der äthiopische Journalist Amir Kiyaro mit seiner Frau Sisay. Foto: Miguel Ferraz

In seiner Heimat Äthiopien wird der Journalist Amir Aman Kiyaro an der Berufsausübung gehindert und bedroht. Die Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte ermöglicht ihm und seiner Familie eine Auszeit.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Auf keinen Fall will er missverstanden werden. „Wir sind unglaublich dankbar, dass wir hier sein dürfen“, sagt Amir Aman Kiyaro und nippt an dem Tee, den seine Frau gerade frisch aufgebrüht hat, nach eigener Rezeptur. „Sisays Tee ist unschlagbar – noch besser als unser weltberühmter Kaffee“, sagt Amir und lacht – um gleich darauf wieder ernst zu werden. Denn Sisay serviert ihre Spezialmischung nicht dort, wo die beiden viel lieber wären – an ihrem Lebensmittelpunkt Addis Abeba, der Hauptstadt von Äthiopien. Sondern mehr als 5500 Kilometer entfernt, in einem hellen und freundlich eingerichteten Apartment in Hamburg, vor dessen Tür eine Fußmatte mit dem Wort „Home“ liegt. Amirs Stimme wird noch leiser als ohnehin, und ohne Regung sagt er: „Es gibt keinen Platz, der so ist wie die eigene Heimat.“

Aber die Dinge sind nun mal, wie sie sind: An dem Ort, den sie lieben und im Herzen tragen, können Amir, Sisay und ihre zweijährige Tochter Fenan nicht leben, zumindest momentan nicht. Denn Amir, 33 Jahre jung und Vollblutjournalist, ist zu Hause ein Verfolgter. Deswegen die Auszeit, die ihm in Kooperation mit dem amerikanischen „Committee to Protect Journalists“ die „Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte“ ermöglicht hat. Seit Mai sind Amir und seine kleine Familie Gäste der Stiftung, insgesamt ein Jahr dürfen sie sich hier erholen von dem, was ihnen in Äthiopien widerfahren ist. Diese Geschichte und die seines Lebens will er nun erzählen.

„Ich wollte helfen, damit der Wandel kommt.“

Amir Aman Kiyaro

Amirs Augen leuchten bei der Frage, was die Menschen über sein Heimatland unbedingt wissen sollten. „Äthiopien ist so ein schönes Land“, sagt er voller Überzeugung, „und es könnte auch ein sehr reiches Land sein.“ Die wichtigsten Fakten: 123,4 Millionen Einwohner:innen, Bevölkerung schnell wachsend, die Geburtenrate liegt derzeit im Schnitt bei etwa 4,0 pro Frau. Im bevölkerungsreichsten Binnenland der Welt im Nordosten Afrikas leben mehr als 90 Ethnien, es gibt mindestens ebenso viele Sprachen. Das Wirtschaftswachstum betrug in den vergangenen vier Jahren stabil zwischen 5 und 6,5 Prozent, eine der größten Wachstumsraten weltweit. 2019 haben sich drei große Parteien zusammengeschlossen zu einer neuen, der „Wohlstandspartei“, die Regierung führt als Premierminister der Friedensnobelpreisträger desselben Jahres an, Abiy Ahmed, der entscheidend an der Beilegung des langjährigen Eritrea-Konflikts beteiligt war.

Genau diese positive Aufbruchstimmung ist es, die Amir 2018 zunächst einen Job im Büro des Bürgermeisters von Addis Abeba annehmen lässt, er kümmert sich dort um „internationale Angelegenheiten“. Mit dem Wunsch der Familie, den er eine Zeit lang lustlos verfolgt, hat er da längst gebrochen: Sie sähe den Sohn lieber in einem medizinischen Beruf. Doch Amirs Herz gehört dem Neuigkeiten-Business: Schon als Kind moderiert er im Schülerradio, schreibt erste kleine Artikel. Später studiert er Journalismus in Addis Abeba und geht anschließend mit einem Stipendium für drei Jahre nach Norwegen, um dort seinen Master zu machen. Dann ruft die Heimat: „Ich wollte nicht nur im Büro oder auf dem Sofa herumsitzen und auf Wandel warten, sondern helfen, damit er auch wirklich kommt“, beschreibt Amir seine Motivation. Denn Menschen wie ihn braucht Afrika dringend: gut und global ausgebildet, dabei heimattreu und hochengagiert.

Doch von der Arbeit im Büro des Bürgermeisters ist Amir enttäuscht, für seinen Geschmack geht dort vieles zu schleppend voran und keineswegs immer in die richtige Richtung. So beschließt er, wieder als Journalist zu arbeiten, filmt und schreibt für internationale Medien sowie die weltgrößte Nachrichtenagentur AP: über Politik, Klimawandel, Lebensbedingungen, aber auch über Fashion und Lifestyle. Als mal wieder ein inneräthiopischer Konflikt militärisch hochkocht – diesmal zwischen Rebellen in den Regionen Tigray und Oromia auf der einen Seite sowie der Zentralregierung auf der anderen, will Amir darüber berichten – und wie es den Not leidenden Menschen in der Region ergeht. Im November 2021 bricht er auf in die umkämpften Gebiete, nur wenige Tage, nachdem er seiner drei Jahre jüngeren und schwangeren Freundin Sisay das Jawort gegeben hat.

Tatsächlich gelingt es ihm, auf Schleichwegen bis zu den Rebellenführern vorzudringen und sie nach ihren Motiven zu befragen – eine Leistung, auf die er als Journalist stolz ist. Am 26. November 2021 kehrt Amir abends von seiner gefährlichen Recherchereise nach Addis Abeba zurück – und ist nur 24 Stunden später gefühlt Staatsfeind Nummer eins.

Im Morgengrauen ist das Apartment von Amir und Sisay öffentlichkeitswirksam umstellt von Polizeieinheiten. Die Polizisten wissen offenbar genau, wo Amir in den vergangenen Wochen gewesen ist. Sie verlangen von ihm die Herausgabe seiner Rechercheunterlagen sowie entsprechender Speichermedien. Amir sagt immer wieder, dass er nichts Unrechtes getan habe, nützen tut es ihm nichts. Als die Polizisten drohen, dass auch seiner Frau etwas zustoßen könne, rückt er Teile des Materials heraus. Mitgenommen und zunächst ohne Anklage verhaftet wird er dennoch, für 125 Tage verschwindet er im Gefängnis.

Vier Monate allein unter vielen in einer engen Zelle, und die Mitgefangenen sind „echte“ Kriminelle bis hin zu Mördern. Immer wieder wird Amir lange nach Mitternacht für stundenlange Verhöre aus der Zelle geholt, immer wieder derselbe Vorwurf: „Du hast mit den Rebellen gesprochen, also unterstützt du sie und bist ein Feind unseres Volkes.“ So suggeriert es auch eine offizielle TV-Dokumentation, in der Amirs Gesicht mehrfach gezeigt wird, als „Kollaborateur der Feinde Äthiopiens“. Amir versucht geduldig, mit den Grundsätzen des unabhängigen Journalismus zu argumentieren, Glauben schenkt man ihm nicht. Einmal muss er für lange Stunden in einen winzigen, engen „dark room“, in dem man nur stehen kann. Nach drei Monaten folgen endlich erste Anhörungen vor einem Richter, im Hintergrund haben Sisay und auch AP sich für ihn stark gemacht. Dann die ersehnte Nachricht: Gegen Kaution wird Amir freigelassen. Seinen Presseausweis aber bekommt er lange nicht wieder, das dauert nach zähem, nervtötendem Ringen hinter den Kulissen noch mehr als ein weiteres Jahr, bis zum Sommer 2023.

Amir wird zudem klar bedeutet: Sei vorsichtig mit dem, worüber du berichtest. Und immer hat er Verfolger, wenn er das Haus verlässt, um seinem Beruf nachzugehen. Dazu kommen Anfeindungen in den sozialen Medien, die TV-Dokumentation ist keineswegs vergessen. So kann und will die kleine Familie nicht weitermachen. Dann eröffnet sich die Möglichkeit, eine Auszeit im Ausland nehmen zu können. Die Familie berät lange und stimmt schlussendlich zu, sie sehnt sich nach ein bisschen Normalität, Abstand, innerem Frieden. All das bietet das Hamburger Exil auf Zeit, und doch fehlen nun andere Dinge: Familie, Freunde, die eigene Sprache, Vertrautheit. „In Äthiopien unterhalten wir uns, wenn wir jemanden auf der Straße treffen, vielleicht gehen wir sogar einen Kaffee trinken. Das gibt es für uns hier nicht.“ Die bisherige Hamburg-Zeit bedeutet eher Abgeschiedenheit, neue Kontakte sind noch nicht viele geknüpft. Ein wenig arbeitet Amir von hier aus auch journalistisch, und er überlegt, ein Projekt zu starten mit dem Oberthema „Nation-Building“, genauer will er noch nicht werden. Dafür wird täglich mit zu Hause gefacetimet.

Zum Abschluss erklären sich Sisay und Amir zu einem gemeinsamen Foto bereit, drüben im nahen Park. Wie die zwei so dastehen, glücklich posieren und ein wenig herumalbern, wirken sie wie frisch verliebt. Ein Radfahrer nähert sich und ruft im Vorbeifahren: „Kann ich mich auch mit dazustellen? Das ist so ein schönes Bild!“

Wenn es nur nicht schief hängen würde …

Artikel aus der Ausgabe:

Guten Appetit!

Wie der Klimawandel dem Obstanbau schadet – ein Besuch im Alten Land. Außerdem im Schwerpunkt Landwirtschaft: Wie Saisonarbeitskräfte ausgebeutet werden und wie Indigene in Kolumbien gegen Drogenkartelle kämpfen – mit dem Anbau von Kaffee.

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Autor:in
Jochen Harberg
Seit über 40 Jahren im Traumberuf schreibender Journalist, arbeitete festangestellt u. a. für Stern und Welt am Sonntag. Seit 2019 mit großer Freude im Team von Hinz&Kunzt.

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