Monopoly in der Altonaer Altstadt

Alle wollen, dass es schöner wird in der Neuen Großen Bergstraße, und viele freuten sich auf Ikea. Auch die meisten kleinen Gewerbetreibenden. Aber viele von ihnen werden vermutlich beim Aufschwung nicht mehr mitspielen und fühlen sich deshalb ausgebootet. Müslin Sahin ist einer von ihnen. Der Imbissbetreiber trat in den Hungerstreik. Und erfährt Solidarität von Menschen, die ihn nicht mal kennen.

(aus Hinz&Kunzt 221/Juli 2011)

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Eine Sanierung wird zum Problem: Die Neue Große Bergstraße in Altona.

Ende Mai. Müslin Sahin hörte auf zu essen. Der Imbissbetreiber fühle sich ungerecht behandelt, sagt sein Anwalt Mesut Ocak, und wolle deshalb ein Zeichen setzen – gegen die Immobilienfirma Hermann Friedrich Bruhn und gegen das Gericht. Und aus Verzweiflung. Denn Müslin Sahin muss jetzt seinen Imbiss räumen, ist jetzt ruiniert und schuldet vielen Menschen Geld. So erklärt es Anwalt Ocak, der seit Kurzem Sahins Vertretung übernommen hat. Nach seiner Schlappe vor Gericht hat sich Sahin einen neuen Anwalt genommen. Er will weiterkämpfen.

Im Streit mit Bruhn kochen die Emotionen hoch. der Vermieter Bruhn hatte Sahin gekündigt, weil der den Imbiss damals im August 2010 nicht zügig eröffnet und die Miete nicht bezahlt habe. Sahin, beziehungsweise sein damaliger Anwalt, hält dagegen: die Leitungen seien defekt gewesen, sodass immer wieder die Sicherungen heraussprangen, wenn Sahin bestimmte Geräte einschaltete.

Davon will Bruhn nichts wissen. Bruhn sagt: Sahin hat die Miete nicht bezahlt. Sahin widerspricht: Er habe doch eine Einzugsermächtigung ausgestellt. Dafür gebe es sogar zeugen. Pech für Sahin: Sein damaliger Anwalt trägt bestimmte Argumente und Beweise nicht rechtzeitig bei Gericht vor. Das Gericht gibt Bruhn recht, ohne dass ein Zeuge gehört wird.

Fakt ist: Die immobilienfirma hat die juristische Auseinandersetzung gewonnen. Fakt ist aber auch, dass Bruhn es ganz schön eilig hatte, ihren Mieter wieder loszuwerden. Am 6. August war die Übergabe, am 7. September hatte Sahin schon die fristlose Kündigung. Bereits vor der Kündigung hatte Bruhn dem Imbissbetreiber zwei Angebote gemacht: 20.000 Euro und Auszug sofort oder den Imbiss bis Sommer 2011 mietfrei weiterzubetreiben. In beiden Fällen sollte er allerdings auf seine vertraglich zugesicherte Laufzeit verzichten. Eigentlich sollte der Vertrag bis ende 2013 gelten, nur mit einer Sonderklausel frühestens im Juni 2012 enden.

Sahin hatte die Angebote damals abgelehnt. „Mit 20.000 Euro hätte er ein Minus-Geschäft gemacht“, sagt Anwalt Mesut Ocak. Schließlich schuldete er dem Vorpächter 30.000 Euro für die Übernahme und hatte noch Maklerkosten und investitionen zu bezahlen. Dass Müslin Sahin derzeit Sympathie von vielen Menschen erfährt, die ihn nicht mal kennen, hat Gründe: das Viertel steht vor einer großen Veränderung. und viele kleine Geschäfte werden diese Veränderung nicht überleben. Nicht nur ikea kommt, sondern vermutlich auch andere Ketten. Dafür eignen sich mindestens drei der vier Gebäudekomplexe, die Bruhn in der neuen Großen Bergstraße und Großen Bergstraße besitzt, so legt der Sanierungsplan nahe.

Alle vier sollen saniert, wenn nicht ganz abgerissen und neu gebaut werden. dass diese Veränderungen auch von der Stadt gewollt sind, kann man im Sanierungsplan nachlesen. dass so viele Gewerbetreibende außen vor bleiben, hat konzeptionel- le Gründe. Man wollte den Niedergang des Viertels aufhalten und es neu beleben. Und die Sanierungsziele sind klar: Bau hochwertiger sprich teurer Wohnungen und Umstrukturierung des Angebots und der Läden. Allerdings war der Niedergang schon fast überwunden, als das Gebiet um die beiden Einkaufsstraßen 2006 zum Sanierungsgebiet erklärt wurde.

Für einen möglichst reibungslosen Ablauf der Sanierung ist die Stadtentwicklungsgesellschaft SteG zuständig. Projektleiter Ludger Schmitz erläutert, dass das Bezirksamt verhindern könne, dass langfristige Verträge für Objekte abgeschlossen werden, die saniert oder abgerissen werden sollen. Die kontrolle der Verträge sei wichtig, damit Sanierung und Abriss nicht wegen langfristiger Verträge behindert werde.

Im Umgang mit den kleinen Gewerbetreibenden hat sich aber auch die SteG nicht mit Ruhm bekleckert. wenn Schmitz und seine Kollegen diese darüber aufgeklärt hätten, wohin die Sanierungsreise geht, hätten die mit Sicherheit nicht euphorisch für die Ansiedlung von Ikea gestimmt. Denn die Aufwertung des Stadtteils bedeutet zwangsläufig: die Menschen, die hier wohnen und einkaufen, werden eher deutsche Mittelständler sein als türkische Familien. Außerdem sieht der Bebauungsplan vor, dass vom Bahnhof bis zu Ikea nur noch Geschäfte angesiedelt werden, die zur Entlastung des Bezirks dienen, die also überregional interessant sind. Das sind in der Regel Ketten. Erst danach, gegenüber von Ikea, soll die Nahversorgung sichergestellt werden.

Die Lebensmittel-Discounter sind schon da. Und immerhin ein türkischer Lebensmittelladen mit längerem Mietvertrag. Gegenüber von der Ikea-Baustelle sind sogar kleine neue Geschäfte hinzugekommen: ein netter kleiner Buchladen, das Café Laib und Liebe und ein Geschäft mit Stoffen und Kissen, das nach Meinung von Schmitz gute Chancen hat, neben Ikea zu bestehen.
Aber selbst Schmitz findet, dass das Sanierungsziel „Schaffung zusätzlichen Wohnraums für Haushalte mit höherem Einkommen“ „inzwischen obsolet“ ist. Denn der Ottensen-Boom ist längst in die Altstadt geschwappt.

Florian Kröger betreibt in vierter Generation und im eigenen Haus ein Feinkostgeschäft.
Florian Kröger betreibt in vierter Generation und im eigenen Haus ein Feinkostgeschäft.

Florian Kröger, der in vierter Generation Feinkost Kröger betreibt, sagt: „Früher haben die Leute die Nase gerümpft, wenn ich gesagt habe, dass ich in der Großen Bergstraße wohne“, sagt er. „Heute stehen sie Schlange, wenn hier mal eine Wohnung zu vermieten ist.“ Eigentumswohnungen kosten inzwischen sogar 3000 bis 4000 euro pro Quadratmeter. Daran wird auch die geplante Soziale Erhaltungsverordnung nichts mehr ändern. Es wird nämlich noch dauern, bis die in Kraft tritt.

Sanierungsexperte Ludger Schmitz hofft trotzdem, dass es nicht so schlimm kommt wie in Ottensen oder in der Schanze. „Hier gibt es noch eine große Anzahl von städtischen immobilien“, sagt er. Und viele Grundstücke habe die Stadt immerhin an Baugemeinschaften und Genossenschaften vergeben. „es gibt hier noch politische Steuerungsmöglichkeiten.“ Aber die Soziale Verhaltungsverordnung ist kein Allheilmittel. „Sie gilt nur für Wohnungen“, sagt Ludger Schmitz. „die kleinen Gewerbetreibenden werden dadurch sowieso nicht geschützt.“

Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum sich auch andere kleine Gewerbetreibende mit Müslin Sahin solidarisieren. wegen der voraussichtlichen umbauten haben auch andere Mieter der Firma Bruhn keine Vertragsverlängerung bekommen. Sie fühlen sich deshalb um die Möglichkeit gebracht, vom großen Kuchen etwas abzubekommen, wenn endlich Schluss ist mit der Trostlosigkeit in der Altstadt.

Da ist Tayip Barat: Seit mehr als sechs Jahren betreibt er den Lotto-Toto-Laden. „Ich habe immer meine Miete pünktlich bezahlt“, sagt er. Aus der Zeitung erfuhr er, dass sein Haus eventuell abgerissen würde. Sein Vertrag geht bis 2015. Jedes Gespräch mit Bruhn, wie es mit ihm weitergeht, wenn das haus abgerissen wird – und wo er während der Umbauphase verkaufen soll, ergibt in seinen Augen „gar nichts“. „Ich habe keine Planungssicherheit“, sagt er. Die brauche er aber, denn daran hängt seine Lottokonzession. „Das Ganze kann mir finanziell das Genick brechen.“ Das Schlimmste findet er allerdings, „dass man nicht miteinander redet“.

Oder Stefanie wobei: Sie hat 2008 das Sanitätshaus Funcke übernommen, das vorher ihre Eltern geführt hatten und das schon seit 55 Jahren in der Großen Bergstraße ansässig war. Sie hatte Angst, gleich einen Zehn-Jahres-Vertrag zu unterschreiben. Sie entschied sich für einen Zwei-Jahres-Vertrag mit der Option, diesen zu verlängern. Das sollte sie laut Vertrag „15 Monate vor Ablauf des Vertrages“ tun, also nach neun Monaten. Aber das hat sie versäumt.

Nach Ablauf der Frist wurde ihr kurz schriftlich mitgeteilt, dass ihr Vertrag auslaufe. „Nach 55 Jahren bei der Firma Bruhn und an diesem Standort bin ich denen nicht mal einen Anruf wert gewesen“, sagt sie bitter. Inzwischen ist sie umgezogen, ein paar Häuser weiter. Die Räume sind heller, moderner und kleiner. wenn sie nicht so sauer über den Ab- schied wäre, könnte sie richtig glücklich sein.

Die STADTKÜCHE von Kahraman Ösüm ist bald Geschichte. Er zieht jetzt um nach St.Georg.
Die STADTKÜCHE von Kahraman Ösüm ist bald Geschichte. Er zieht jetzt um nach St.Georg.

Kahraman Ösüm hat ein relativ großes Restaurant: die Stadtküche. der ehemalige Flugbegleiter bietet deutsche Küche von Königsberger Klopsen bis Kalten Hund. Immer wieder mal wollte er in den schlechten Zeiten der Großen Ber straße aus seinem langfristigen Vertrag aussteigen. Bruhn habe ihn aber nicht gehen lassen. In den vergangenen Jahren habe man ihn damit beruhigt, dass er ja bald einen tollen Standort habe: gegenüber von Ikea.

Aber die Ikea-Ära wird er vermutlich nicht mehr erleben. Denn er hat keine Option für die Zeit nach dem Umbau. „Bruhn hat gesagt, ich könnte mich mit einem neuen Konzept für den Food Court bewerben, aber da stünden schon viele auf der Liste.“ Der Food Court – viele kleine Essnischen, die meisten vermutlich Ketten – soll übrigens in das Haus einziehen, in dem früher das Sanitätshaus von Stefanie Wobbe untergebracht war.

Die Firma Bruhn versteht den unmut nicht. Vielleicht, so räumt Geschäftsführer Kay Brahmst allerdings im Gespräch ein, sollte man in Zukunft mit den Mietern eher einmal mehr als einmal weniger reden. Tayip Barat mit seinem Lotto-Toto-Geschäft könne man sich gut im Neubau vorstellen, wobei man nicht wisse, wann und zu welchen Bedingungen das wäre. Für die Zeit des Abrisses und des Neubaus müssten sich Barat und etwaige andere Mieter selbst eine Alternative suchen.

Für Kahraman Ösüm sieht Geschäftsführer Brahmst eine Chance im neuen Food Court, falls er ein interessantes Konzept vorlege. Und es stimme nicht, dass die Liste der Interessenten schon lang wäre. Man sei noch im Stadium des Brainstormings. Im Falle von Stefanie wobbe sei die Firma der Sanitätshaus-Betreiberin sogar entgegengekommen, so Brahmst. Man habe ihr, als sie dann neue Räume gefunden habe, sogar noch die Miete für die letzten Monate erlassen.

In Sachen Option vertritt Geschäftsführer Brahmst aller-dings eine klare haltung: Eine Option ist grundsätzlich ein Vorteil für den Mieter, sagt er. Warum sollte er den Mieter noch selbst darauf aufmerksam machen, wenn er da eine Frist versäume. Es spiele auch keine Rolle, ob der Mieter schon ein Jahr oder 55 Jahre dabei gewesen ist. Und es stimme auch nicht, dass Bruhn nur gegenüber den kleinen Geschäften so hart verfahre. Neulich habe ein großer kaffeeröster eine Option verschlafen. Auch der habe keine Vertragsverlängerung bekommen.

Vielleicht hat der ein oder andere Gewerbetreibende Glück. Gerade hat sich der Verein „Unternehmer ohne Grenzen“ in der Altstadt angesiedelt. Die Berater sind Experten, die selbst migrantischen Hintergrund haben. Sie wollen den Kleinunternehmern helfen, neue Konzepte zu entwickeln und sich zu professionalisieren. Sie waren schon zum Antrittsbesuch in den Läden und wollen auch in Konfliktfällen vermitteln.

Konkret zum Thema Bruhn wollen und können sie sich nicht äußern. „die Krise hängt wie ein grauer Schleier über der neuen Großen und der Großen Bergstraße“, sagt Geschäftsführer Kazim Abaci. Viele sind verunsichert. „Wir – und damit meine ich uns Ausländer – haben eine andere Kultur: Wenn wir verhandeln, gilt das gesprochene Wort, darauf kann man sich in der Regel auch verlassen. In Deutschland gilt nur das Schriftliche, egal, was vorher besprochen wurde.“ Daran, so Abaci, habe auch er sich erst gewöhnen müssen. Auf jeden Fall sei es immer ratsam, sich bei Vertragsabschlüssen rechtlich beraten zu lassen.

Wie es speziell mit Müslin Sahin weitergeht, ist noch ungewiss. der imbissbetreiber ist derzeit außer Gefecht: er liegt, so sein Anwalt Mesut Ocak, aufgrund seines Hungerstreiks auf der Intensivstation eines Hamburger Krankenhauses.

Text: Birgit Müller
Fotos: Mauricio Bustamante