Niendorf

Altenheim wird ein Zuhause für Obdachlose

Seit Iosif in die neue Einrichtung in Niendorf gezogen ist, geht es ihm besser. Foto: Mauricio Bustamante
Seit Iosif in die neue Einrichtung in Niendorf gezogen ist, geht es ihm besser. Foto: Mauricio Bustamante
Seit Iosif in die neue Einrichtung in Niendorf gezogen ist, geht es ihm besser. Foto: Mauricio Bustamante

Seit Ende April leben pflegebedürftige Obdachlose in einem ehemaligen Altenheim in Niendorf. Unter ihnen: Iosif. Der Hinz&Kunzt-Verkäufer, Menschen aus der Nachbarschaft und eine Ehrenamtliche berichten von den ersten Monaten vor Ort.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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„Wumms!“, ruft Iosif und haut mit der Hand auf sein Knie. „Ein Auto hat mich von der Straße gepustet, als ich über den Zebrastreifen gegangen bin“, sagt er auf Englisch. Der 61-Jährige zeichnet mit seiner Hand einen großen Bogen. „Ich bin durch die Luft geflogen.“ Mehr Erinnerungen an den Unfall vor eineinhalb Jahren hat der Obdachlose nicht. Drei Tage und mehrere Operationen später sei er im Krankenhaus aufgewacht. Seitdem sei alles „großer Mist“. Der Brite mit slowakischen Wurzeln zieht sein Hosenbein hoch. Zwischen den Narben stechen die Umrisse einer Metallplatte unter der Haut hervor.

Nach zwei Monaten im Krankenhaus wurde Iosif im Rollstuhl in die Friesenstraße entlassen. Die städtische Notunterkunft in Hammerbrook kannte er schon. In seinen 17 Jahren auf der Straße habe er einige Winternächte in Notunterkünften verbracht. Gemocht habe er es dort nie: „Viele Menschen, viel Alkohol, viel Polizei.“

„So ein Pflegewohnheim muss es unbedingt geben.“

Monika Kundy, Ehrenamtliche

Seit einem Monat aber sei „endlich alles besser“. Zufrieden nickt er in Richtung des ehemaligen Altenheims am Garstedter Weg. Hier, zwischen Einfamilienhäusern und Stadtvillen, leben Iosif und 55 weitere Obdachlose (Stand 12. August). Menschen im Rollstuhl, mit Krebs-, Atemwegs-, Herz- oder Nierenerkrankungen, Demenz oder Diabetes.

Von manchen im Stadtteil wurden sie nicht mit offenen Armen empfangen. Die Proteste waren laut. Eine Initiative verteilte Flugblätter. Die Stadt verschob kurzfristig die Eröffnung. So sollte die benachbarte Grundschule Zeit bekommen, sich auf die neuen Nachbar:innen vorzubereiten. Eltern und Anwohnende forderten einen Sicherheitsdienst, der nun rund um die Uhr um das Heim patrouilliert.

Im ehemaligen Altenheim am Garstedter Weg leben seit Ende April pflegebedürftige Obdachlose. Foto: Mauricio Bustamante
Im ehemaligen Altenheim am Garstedter Weg leben seit Ende April pflegebedürftige Obdachlose. Foto: Mauricio Bustamante

Wie fühlen sich die Anwohnenden inzwischen? „Mich stört nur der Sicherheitsdienst. Der bauscht das auf“, sagt Patricia Püschel aus Niendorf. „Man denkt direkt, hier leben Schwerverbrecher.“ Kopfschüttelnd fügt die 60-Jährige hinzu: „Es wird schon niemand die SUVs stehlen.“

Nachbar Mathias Fronzek hingegen befürwortet den Wachdienst. „Er verleiht den Bürgern ein Sicherheitsgefühl.“ Im Vorfeld sei er skeptisch gewesen, gerade wegen der Kita und der Grundschule nebenan. Er habe befürchtet, dass viele Alkohol- und Drogenkranke ins Heim ziehen würden. Bedroht fühle er sich von den neuen Nachbar:innen jedoch nicht. „Seit sie hier sind, ist überhaupt nichts anders als vorher“, sagt der 63-Jährige.

Im Vorweg habe er sich auch Gedanken über den Wert der umliegenden Immobilien gemacht. Der Besitzer eines an das Wohnheim angrenzenden Doppelhauses habe sofort verkauft, als klar war, wer die neuen Nachbar:innen werden würden, erzählt Fronzek. Doch er ist beruhigt: Bisher sehe es nicht so aus, als würden die Immobilien an Wert verlieren.

Eine Nachbarin, die anonym bleiben möchte, ist wenig begeistert. „Das hat einfach ein Geschmäckle“, sagt sie. „Den Hauptbahnhof machen sie sauber, und dann kommen plötzlich alle hierher.“ Bemerken würde sie die neuen Nachbar:innen jedoch nicht. Mehr Sorgen mache sie sich nun um „die da drüben“. Sie zeigt in Richtung der Fett’schen Villa, einem Übergangswohnheim für Obdachlose, das Mitte Juli 650 Meter entfernt eröffnet hat. Im Gegensatz zu den pflegebedürftigen und teils schwer kranken Obdachlosen im ehemaligen Altenheim leben dort zwölf Menschen (Stand 14. August), die durch intensive Sozialberatung Hilfe bei der Suche nach Wohnraum und Arbeit bekommen. Laut Sozialbehörde gab es bislang keine Beschwerden von Nachbar:innen.

Iosif hat mit den Anwohnenden wenig Berührungspunkte. Bis vor ein paar Tagen noch war er auf einen Rollstuhl angewiesen, hat das Haus selten verlassen. Die Sozialbehörde teilt gegenüber Hinz&Kunzt mit, dass sich die Bewohner:innen des Heims überwiegend im Haus aufhalten. Die Stadt und der Betreiber der Unterkunft, Fördern & Wohnen, seien zufrieden mit dem Start der Einrichtung.

Auch das Polizeikommissariat Niendorf, das nicht weit entfernt am Garstedter Weg seine Dienststelle hat, zieht ein positives Fazit. Die Bewohner:innen der Einrichtung verhielten sich komplett unauffällig. Beschwerden lägen nicht vor, sagt ein Polizeisprecher.

Besonders erfreulich findet die Sozialbehörde, dass es Menschen gibt, die sich für die Obdachlosen vor Ort engagieren wollen.

Eine der Hilfsbereiten ist Monika Kundy. Die 70-Jährige engagiert sich seit drei Jahren im Winternotprogramm der Kirchengemeinde in Niendorf. Von der neuen Einrichtung der Stadt ist sie begeistert. Während ihrer Zeit beim Notprogramm habe sie immer wieder erlebt, dass Obdachlose zu krank waren, um sie zurück auf die Straße zu schicken. „So ein Pflegewohnheim muss es unbedingt geben.“

Willkommen in Niendorf! Oder?
Streit über Obdachlosenunterkünfte
Willkommen in Niendorf! Oder?
Die Stadt eröffnet in Niendorf zwei Einrichtungen für Obdachlose. In der Bevölkerung ist ein Streit darüber entbrannt, ob der Stadtteil der richtige Ort dafür ist.

Anfang August hatte Kundy ihren ersten Tag als Ehrenamtliche im Garstedter Weg. Bei einer Gesprächsrunde hat sie einige Bewohner:innen kennengelernt. „Die Atmos-phäre ist nett, total offen“, sagt sie. „Da mag man gerne hingehen.“ Ihre Aufgaben würden sich noch ergeben. Ob als Gesprächspartnerin, Begleitung zur Bank oder Erfüllerin von anderen Wünschen – sie werde ihren Platz finden.

Auf eine Krücke gestützt lässt sich Hinz&Künztler Iosif auf eine Bank fallen. „Der Ort ist echt gut, und das Personal ist großartig.“ Der sonst eher wortkarge Mann gerät ins Schwärmen. Er lese viel. „Die alten Klassiker.“ Gerade sei er mit Tolstoi zugange. „Und wenn ich kein Buch mehr habe, dann bringen sie mir am nächsten Tag fünf neue.“

Viele Mitarbeitende kenne er aus der Friesenstraße, doch hier könne man sich mehr Zeit für ihn nehmen. Die neue Unterkunft sei „ein Traum, eine richtige Villa“.

Auch das Sicherheitspersonal sei freundlicher. Man dürfe sogar etwas Alkohol mit reinnehmen. Ob er Trinker war? „Oh, Jesus, natürlich!“, ruft er. „Auf der Straße und im Winternotprogramm ist das deine Medizin, die dich auf der Höhe hält.“ In der neuen Unterkunft brauche er den Alkohol nicht mehr so sehr. „Weil hier alles in Ordnung ist“, sagt er.

Zweimal am Tag kommen Pflegekräfte in sein Zimmer, fragen, ob er etwas brauche. Ein Arzt hat Iosif Übungen für seine Beine gezeigt, die er fleißig macht. Während der vier Wochen, die er nun in der neuen Einrichtung lebt, habe er große Fortschritte gemacht. Ob er auch ohne die Versorgung wieder aus dem Rollstuhl rausgekommen wäre, weiß er nicht. Das Zimmer teilt er sich mit einem befreundeten Hinz&Künztler. Auch das sei schöner als in der Friesenstraße, wo er in einem Dreibettzimmer mit ihm fremden Menschen untergebracht gewesen sei.

„Ich fühle mich hier wie zu Hause – also fast“, sagt er. „Es sind immer noch viele Menschen hier.“ Er sei dankbar, dass er Zeit bekommt, gesund zu werden. Wenn er wieder ohne Krücken laufen könne, werde er weiterziehen. Das könne aber noch dauern. „Bin ja nicht mehr der Jüngste.“ Er lacht, und sein Schnauzbart wippt auf und ab.

„Ich möchte für mich selbst sorgen können, frei sein“, sagt Iosif. Deswegen hoffe er, bald fit genug zu sein, um wieder Hinz&Kunzt verkaufen zu können. „Vielleicht finde ich auf meine alten Tage auch noch eine Wohnung nur für mich“, sagt er und steht, auf eine Krücke gestützt, von der Bank auf. Jetzt werde er sich erst mal wieder Tolstoi widmen.

Artikel aus der Ausgabe:

Guten Appetit!

Wie der Klimawandel dem Obstanbau schadet – ein Besuch im Alten Land. Außerdem im Schwerpunkt Landwirtschaft: Wie Saisonarbeitskräfte ausgebeutet werden und wie Indigene in Kolumbien gegen Drogenkartelle kämpfen – mit dem Anbau von Kaffee.

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Autor:in
Luca Wiggers
Luca Wiggers
1999 in Hannover geboren, hat dort Germanistik und Anglistik studiert und ist Anfang 2022 nach Hamburg gezogen. Seit Juni 2023 Volontärin bei Hinz&Kunzt.

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