Boris Meyn wurde bekannt mit seinen Hamburg-Krimis. Sie erzählen vom Wandel der Stadt und wer daran verdiente
(aus Hinz&Kunzt 162/August 2006)
Eigentlich wollte Boris Meyn nur mal einen Krimi schreiben. Aber gleich sein erster Hamburg-Roman „Der Tote im Fleet“ schlug so gut ein, dass er eine Fortsetzung schreiben musste. Jetzt, ein paar Jahre und etliche Krimis später, denkt er gar nicht mehr ans Aufhören. Im Gegenteil. Der promovierte Kunst- und Bauhistoriker hat ein ehrgeiziges Projekt: Er will in seinen historischen Romanen die Stadtentwicklung Hamburgs bis in die heutige Zeit erzählen – und die liest sich tatsächlich wie ein Krimi.
Manchmal, da stockt einem beim Lesen der Atem. Nicht nur, weil sich die Spannung ins Unerträgliche steigert, sondern weil plötzlich mitten im Krimi Namen auftauchen, die man kennt. In Zusammenhängen, die man nicht erwartet. Zum Beispiel Kaiser Wilhelm I., der im „Blauen Tod“ ziemlich unverblümt als homosexuell dargestellt wird. Was ja heutzutage nichts Problematisches ist, aber nicht gerade zum Allgemeinwissen gehört.
Selbst aus heutiger Sicht pikant ist das Verhalten politischer Funktionsträger: Man gewinnt fast den Eindruck, Hamburg sei für die wichtigen und mächtigen Männer der Stadt eine Art Selbstbedienungsladen gewesen. Auf jeden Fall standen die Interessen der Kaufleute stark im Vordergrund, bestätigt Meyn. „Hamburg war immer schon eine Ausnahmestadt, eine Bürgerstadt. Aber Bürgerrechte hatte eben nur der, der auch Geld und Einfluss hatte.“
Der Abriss des Gängeviertels und der nachfolgende Bau der Speicherstadt ist dafür ein gutes Beispiel, findet Meyn, der trotz seiner Recherchen nicht die Spannung aus dem Auge verliert. 20.000 Menschen lebten damals in dem Viertel – die meisten unter katastrophalen Bedingungen. Die Gassen waren eng, die Wohnungen waren wenig mehr als ein Dach über dem Kopf und dunkel. Aber die Mieten waren billig, der Weg zur Arbeit nah – und die verwinkelten Straßen kaum zu durchdringen. Wer sich hier versteckt hielt, den konnte auch die Polizei nur schwer dingfest machen. Zumindest dieser Teil der Stadt gehörte den Armen.
Und vielleicht hatte es sich schon herumgesprochen, wie schlimm die Zustände in anderen Billigquartieren waren. Meyn beschreibt ein Massenquartier am Borstelmannweg in Hammerbrook. „Das Gebiet war schon vor dem großen Brand unter mysteriösen Umständen unter Bodenspekulanten aufgeteilt worden“, sagt er. „1881 bis 1890 entstand dort eines der engsten Etagen- und Terrassenquartiere der Stadt.“ Billigbauten, die trotzdem überteuert vermietet wurden. An den Wänden lief das Wasser herunter, überall gebrochene Abwasserrohre, es stank nach Müll und Exkrementen. Es war unmöglich, die Wohnungen sauber zu halten. „Die Zustände waren wahrscheinlich noch viel schlimmer, als ich sie beschrieben habe“, sagt Boris Meyn. „Es ist sicher kein Zufall, dass diese Straßenzüge neben dem Gängeviertel am schlimmsten von der Cholera betroffen waren.“ Allein beim Anblick des Gängeviertels hatte der Arzt und Virologe Robert Koch ausgerufen: „Meine Herren, ich vergesse, dass ich in Europa bin!“
Der Gedanke, dass auch Wohnungen für Arme zumindest nicht gesundheitsschädlich und tatsächlich ein Zuhause sein sollten, wurde nach Meyns Ansicht erst in der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg richtig umgesetzt.
Vorher, so gewinnt man den Eindruck, war es vielen bürgerlichen Politikern fast egal, wie die Armen lebten. „Der Skandal für die Politiker und Kaufleute war weniger, dass die Menschen in erbärmlichsten Umständen lebten, sondern dass sie mehrheitlich den Sozialdemokraten zuneigten“, so der Bauhistoriker. Und die galten damals geradezu als Revolutionäre.
Die Idee, das Gängeviertel zugunsten der Speicherstadt abzureißen, war deshalb für die meisten Politiker verlockend, aus wirtschaftlicher, aber auch aus sicherheitspolitischer Sicht, so beschreibt es jedenfalls Boris Meyn. Unter anderem sollten die geplanten Straßen auch deshalb groß und breit sein – und eben nicht mehr verwinkelt und unübersichtlich: um die Viertel besser polizeilich kontrollieren zu können.
Zu den wenigen Politikern, die sich für die Armen einsetzen wollten, gehörte offenbar der Reeder und Kaufmann Robert Miles Slomann. Er bekleidete kein Senatsamt, war aber in der Finanzdeputation tätig. Er warnte insbesondere vor Bauschwindel und Spekulation.
Die soziale Frage wollte auch Senator Versmann nicht ganz unter den Teppich kehren. Er wollte deshalb erst mit dem Abriss der Kaufmannshäuser auf dem Wandrahm beginnen. „Daraus wurde jedoch nichts“, so Meyn. Kurze Zeit später stellte Arthur Lutteroth, seit 1880 Präses der Handelskammer, mit 51 Gesinnungsgenossen den Antrag auf einen Gesamtabriss. Versmann konnte diesen Antrag nicht mehr verhindern, wenn er es denn gewollt hätte. 1883 verunglückte er so schwer auf seiner Treppe, dass er sich für dieses entscheidende Jahr aus der Politik zurückziehen musste.
Meyn glaubt jedenfalls nicht an Zufall, „dass die Senatoren, die sich gegen den Abriss des Gängeviertels und gegen den Bau der Speicherstadt gestellt hatten, in den entscheidungsrelevanten Gremien keinen Platz mehr erhielten.“
Vieles hat sich seit damals geändert. Anderes ist seiner Meinung nach noch so wie früher. Immer noch, so Meyn, haben die Kaufleute in dieser Stadt enorm viel zu sagen. Und viele alteingesessene Familien sitzen immer noch an den Schaltstellen der Macht. „Ich will mit meinen Romanen deshalb nicht nur unterhalten, sondern auch den Finger auf die Wunde legen“, sagt Meyn. Wenn die Menschen heute auch nicht mehr so machtlos sind wie damals.
Birgit Müller
Boris Meyn
Jahrgang 1962, lebt in einem Dorf in Schleswig-Holstein. Seine Hamburg-Krimis (unter anderen „Die Rote Stadt“, „Der eiserne Wal“, „Der Blaue Tod“), sind bei rororo erschienen.