Alice Pina Ncata gab als junge Frau ihre feste Arbeitsstelle auf, um als Aktivistin gegen die Apartheidsregierung in Südafrika zu kämpfen. Bei einem tragischen Unfall verlor sie selbst ihre körperliche Bewegungsfreiheit. Als Verkäuferin der Straßenzeitung „The Big Issue“ hält sie sich in Kapstadt über Wasser.
Es ist eine von Kapstadts bekanntesten Touristenattraktionen: die Victoria & Albert Waterfront, ein Hafenbecken, das von Restaurants und Läden gesäumt ist. Die Aussicht auf den Tafelberg macht die Postenkartenidylle perfekt. An diesem malerischen Ort verbringt Alice Pina Ncata (52) sieben Tage die Woche. Aber von der Schönheit dieses Ortes bekommt sie kaum etwas mit.
Im Untergeschoss eines riesigen Einkaufszentrums sitzt Alice auf einem Mäuerchen neben der großen Glastür und bietet die Straßenzeitung „The Big Issue“ an. Nur wenig Tageslicht findet seinen Weg nach unten, trotzdem hat diese Platzwahl ihren Grund: Hier, direkt neben den Kassenautomaten des Parkhauses, müssen die Autofahrer oft Schlange stehen und ohnehin ihre Geldbeutel zücken.
Alice hat aber auch viele Stammkunden. Obwohl ihre Stimme fast unhörbar ist, bemühen die sich, mit Alice immer ein wenig zu plaudern. Sie beugen sich zu ihr, auch der Geruch des rohen Knoblauchs, den sie als Mittel gegen ihre Erkältung kaut, kann sie nicht davon abhalten.
Ihr Leben widmete sie dem politischen Kampf – und verlor es fast.
Wann hat sie angefangen, „The Big Issue“ zu verkaufen? Und wie ist sie dazu gekommen? Das Lächeln auf ihrem Gesicht verschwindet und es fällt ihr sichtbar schwer, sich an genaue Daten und Jahreszahlen zu erinnern. „Mein Erinnerungsvermögen ist nicht sehr gut“, entschuldigt sie sich nach einer langen Stille.
Denn Alice hatte einen schweren Unfall und erlitt einen Hirnschlag. Es geschah im Jahr 1990, in den letzten Tagen der Apartheid in Südafrika. Alice hatte ihre Arbeit in der Erwachsenenbildung aufgegeben und all ihre Zeit in die Arbeit als Aktivistin beim Afrikanischen Nationalkongress (ANC) investiert. Sie war unter denen, die versuchten, Druck auf die Regierung auszuüben, die Südafrikas letzte ausschließlich weiße Regierung werden sollte. Die Aktivisten forderten Freiheit für alle Südafrikaner und dass politische Gefangene wie Nelson Mandela aus den Gefängnissen entlassen werden sollten.
Alice erinnert sich an den schicksalhaften Abend: „Wir kamen vom Parlament. Ich saß auf dem Rücksitz zwischen zwei anderen Frauen und wir waren auf dem Weg zu unseren Mitstreitern, um ihnen gute Nachrichten zu überbringen.“ In jener Nacht war klar geworden, dass es Hoffnung auf Freilassung der politisch Inhaftierten, für die sie kämpften, gab. Alice führt vor, wie sie auf den Autositzen vor Freude getanzt hatten. „An einer Kreuzung hat unser Fahrer zu viel riskiert.“ Was danach geschah, kennt sie nur von Fotos und aus Erzählungen.
So gut wie mittendrin, aber nicht dabei.
Als Alice zweieinhalb Monate nach dem schweren Autounfall wieder zu Bewusstsein kam, war alles vorbei. Die Gefangenen waren freigelassen worden. Sie hatten den historischen Moment, von dem sie so lange geträumt hatte, verpasst. Gleichzeitig hatte sie ihre eigene körperliche Bewegungsfreiheit verloren. „Ich konnte nicht gehen, ich konnte nicht sprechen“, sagt Alice leise.
Doch sie kämpfte sich zurück ins Leben. Lernte laufen, lernte sprechen. Heute kann Alice beides wieder – wenn auch nicht so mühelos wie zuvor, und sie muss es immer noch ruhig angehen lassen. Nichts tun kommt für sie aber nicht in Frage. Und so verkauft sie Tag für Tag Big Issue an ihrem Stammplatz im Parkhaus. Ganz nah dran an einem der schönsten Orte der Stadt. Fast mittendrin, aber eben doch nicht so ganz dabei.
Text und Foto: Jorrit Meulenbeek/ Street News Service
„The Big Issue“ in Kapstadt
„The Big Issue“ erscheint in Kapstadt alle drei Wochen. Mit dem Verkauf ernähren die Verkäuferinnen und Verkäufer ihre Familien. Und: Big Issue verschafft ihnen auch Zugang zu Weiterbildung und Beratung. Denn trotz raschen Wirtschaftswachstums in Südafrika gibt es schlicht nicht genug Arbeit für alle, und der Konkurrenzkampf darum ist hart. Die offiziellen Statistiken schätzen die Arbeitslosigkeit auf rund 25 Prozent. In Kapstadt sind die meisten Verkäufer nicht ohne festen Wohnsitz im engeren Sinn. Die meisten haben eine Bleibe, meistens in einer der sich immer weiter ausbreitenden Townships in Kapstadt, Siedlungen außerhalb der Stadt, die ursprünglich während der Zeit der Apartheid für farbige und schwarze Südafrikaner geschaffen worden waren.