Zwangsräumung in Berlin : Ali gegen Goliath

Die Zwangsräumung von Ali Gülbol ist in Berlin zu einem Symbol für steigende Mieten und Verdrängung geworden. Hunderte Menschen versuchten im Februar, der Gerichtsvollzieherin mit einer Sitzblockade den Weg zu seiner Wohnung zu versperren. Jahrelang hatte sich Gülbol vorher vor Gericht mit dem Vermieter um eine Mietsteigerung gestritten.

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Ali Gülbol am Abend vor der angekündigten Zwangsräumung in seiner alten Wohnung: „Ich werde hier nicht ausziehen!“

Am Ende werden Hunderte Polizisten und sogar ein Polizeihubschrauber kommen müssen, um Ali Gülbol aus seiner Wohnung zu räumen. „Ich werde hier nicht ausziehen“, sagt er am Abend vor der drohenden Zwangsräumung. Die Gerichtsvollzieherin hat sich angekündigt, bereits zum dritten Mal. Der 41-jährige Malermeister wird bei dem Termin um 9 Uhr morgens nicht alleine sein, denn Unterstützer haben angekündigt, der Beamtin mit einer Sitzblockade den Weg zu versperren. Die drohende Räumung ist in der Hauptstadt zum Symbol für die Vertreibung von Mietern aus Berlins Innenstadtlagen geworden. Seit 35 Jahren lebt der Familienvater jetzt in diesem Haus in Kreuzberg, seit 14 Jahren in dieser Wohnung.

Weil Gülbol seine Mietschulden zu spät bezahlt hat, droht ihm die Räumung. Sein Vermieter hat ihm die Kündigung ­geschickt. Er bezahlte zwar seine Schulden, aber der Vermieter nutzte seine Chance. Denn der Kündigung ging ein jahrelanger Streit vor Gerichten voraus. Eigentlich, sagt Gülbol, habe er nämlich mit dem früheren Vermieter eine Abmachung gehabt: Er renoviert die Wohnung auf eigene Kosten, dafür steigt die Miete nicht. Irgendwann wollte er die 122 Quadratmeter große Wohnung dann kaufen.

2006 kommt ihm ein Investor zuvor und kauft das ganze Haus, erhöht die Miete um knapp 100 Euro. Der neue Eigentümer fühlt sich nicht an die Abmachung mit Gülbols altem  Vermieter gebunden, obwohl auch mündliche Absprachen als Vertrag zählen. „Der alte Vermieter hätte sein Wort gehalten“, sagt Gülbol. „Ich war naiv.“ Auch weil er die heruntergekommene Wohnung 1999 für 20.000 Euro renoviert hat, zahlt Gülbol weiter die alte Miete von 470 Euro – bis die Gerichte urteilen, dass die Vereinbarung mit dem einstigen Vermieter nicht mehr gilt. Auf mehr als 5000 Euro belaufen sich die Schulden bis dahin. Gülbol sieht sich als Justiz­opfer: „Ich kann nicht glauben, dass ein Gericht so ungerecht sein kann!“

Inzwischen ist Gülbol zum Symbol geworden. Sein Name steht für die von Räumungsgegnern geschätzten 23 täglichen Zwangsräumungen in Berlin – genaue Zahlen werden nicht erfasst. Seit in der Hauptstadt die Mieten steigen, müssen ­viele umziehen, weil sie zu wenig Geld für die neuen Preise haben: Gentrifizierung. „Angefangen hat die Entwicklung mit der Finanzkrise“, sagt der Berliner Stadtsoziologe Andrej Holm. Bis zur Jahrtausendwende waren die Mieten in Berlin relativ niedrig, doch dann wurden Mietshäuser als Spekulationsobjekte entdeckt. „Wenn du ökonomisch ­rangehst, willst du natürlich unrentable Mieter loswerden“, sagt Holm. „Unrentabel in Gänsefüßchen.“

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In Kreuzberg verschlechtern viele Mieter lieber ihren Lebensstandard, als in ein anderes Viertel zu ziehen, sagt der Stadtsoziologe Andrej Holm.

Inzwischen gibt es in Bezirken wie Kreuzberg oder Neukölln kaum noch günstige Wohnungen: „Verdrängung ist in Berlin nicht mehr nur auf die klassischen Verlierer beschränkt“, sagt Holm. „Auch die Mittelschicht ist betroffen.“ Viele müssen in die weit entfernten Großsiedlungen am Stadtrand ziehen.

Das wollen viele Mieter aber nicht. Soziologe Holm hat für Kreuzberg eine besondere Form der Verdrängung ausgemacht: die aus dem Lebensstandard. Weil viele so sehr an ­ihrem Lebensumfeld hingen, würden sie ihre Ansprüche lieber senken, anstatt wegzuziehen. So wie die, die plötzlich einen zweiten Job annehmen, um die Miete bezahlen zu können. Oder so wie Ali Gülbol: Seit Wochen lebt er mit seiner Frau und den drei Kindern in der Wohnung seiner Eltern. Zu siebt auf 114 Quadratmetern. „Überbelegung ist in Kreuzberg wieder ein Thema“, sagt Andrej Holm.

Seine eigene Wohnung hat Gülbol leer geräumt, um nicht teuer dafür bezahlen zu müssen, sollte die Gerichtsvollzieherin es doch bis ins Treppenhaus schaffen. Einmal stand sie schon vor der Lausitzer Straße 8 in Kreuzberg, im Oktober 2012. „Das war ein komisches Gefühl, als ob du auf den Scharfrichter wartest“, erinnert sich Gülbol. Mehr als 100 Nachbarn und Mietrechtsaktivisten zwangen sie damals mit einer spontanen Sitzblockade, den Räumungsversuch abzubrechen. „Ich konnte es kaum glauben“, sagt er. „Da habe ich gemerkt, dass ich nicht alleine bin.“ Ein zweiter Räumungstermin im Dezember wurde abgesagt, laut Gericht wegen eines Formfehlers.

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„Viele empfinden es als persönliches Versagen, ihre Wohnung zu verlieren“: Petra Wojciechowski berät unter anderem Menschen, die von einer Zwangsräumung bedroht sind.

Wer von einer Zwangsräumung bedroht ist, findet auch bei Beratungsstellen Hilfe. Eine gibt es direkt in dem Haus, in dem Ali mit seiner Familie wohnt. Petra Wojciechowski berät im Stadtteilzentrum Kreuzberg seit der Jahrtausendwende Menschen, die Probleme mit Schulden haben. Wer von einer Räumung bedroht ist, traut sich aber oft gar nicht in die Beratung. „Viele empfinden es als persönliches Versagen, ihre Wohnung zu verlieren“, sagt Wojciechowski. Gerade ändert sich das aber: Seit Ali Gülbols Fall öffentlich wurde, haben sich im Zentrum rund 20 Kreuzberger gemeldet, die auch Angst vor einer Räumung haben. So konnte die Beraterin auch schon drohende Räumungen abwenden.

Manchmal ­kämen die Betroffenen allerdings erst einen Tag vorher in das Stadtteilzentrum, also wenn es meist schon zu spät für Hilfe ist. Dann wird es existenziell, sagt Wojciechowski: „Plötzlich gerät man in die Gefahr, obdachlos zu werden.“ Bis zuletzt würden viele Schuldner daran glauben, ihre Wohnung behalten zu können, und sich deswegen keine neue Bleibe suchen.

Eine neue Anlaufstelle für Räumungsbedrohte ist das Bündnis „Zwangsräumungen verhindern!“: „Unser Ziel ist es, zu verhindern, dass die Leute auf der Straße landen“, sagt Sprecher Florian Groll. Leute wie Gülbol kommen auf das Bündnis zu und werden unterstützt. Mieterverdrängung soll sichtbar gemacht werden – zum Beispiel mit Sitzblockaden.

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Trotz Temperaturen um den Gefrierpunkt saßen die Sitzblockierer drei Stunden lang auf dem Bürgersteig vor Ali Gülbols Wohnung.

Die ersten Polizeifahrzeuge fahren um 6 Uhr morgens vor der Lausitzer Straße 8 vor, die ersten Blockierer sind schon da. Bevor die Polizei die Straße absperren kann, sitzen wieder mehr als 100 Menschen vor der Tür zu dem Hinterhof, über den es in Ali Gülbols Wohnung geht. Alte, Junge, Aktivisten, Nachbarn. Hunderte sammeln sich hinter den Absperrgittern. „Für eine Stadt für alle Menschen“, rufen sie. An den Nachbarhäusern hängen Transparente, aus einem Fenster klingt Rio Reiser: „Das ist unser Haus!“

Von seinem Balkon im vierten Stock lässt Norbert Hirschauer an einer Schnur Süßigkeiten für die Blockierer herab. „Wir finden es toll, wie die Leute das machen“, sagt der 51-jährige Professor. Seit 23 Jahren wohnt er in Kreuzberg, die Entwicklung der Mieten hier findet er fatal: „Es können doch nicht alle Leute an den Stadtrand gedrängt werden!“ Eine alte Frau mit Kopftuch ist mit ihrem Rollstuhl zum Protestieren gekommen. „Ich habe selber meine Wohnung verloren wegen Profit“, sagt sie in eine Kamera.

Stundenlang geht das so, bis ein junger Mann durch ein Megafon verkündet: „Die Wohnung wurde geräumt!“ Doch das ging nicht ohne Tricks. Die Gerichtsvollzieherin wurde mit einer Polizeiuniform verkleidet durch einen anderen Hinterhof an den Demonstranten vorbei geschleust.

Gleich nach der Räumung kommt Ali Gülbol auf die Straße. Den Morgen hat er bei seinen Eltern verbracht, den Wohnungsschlüssel im Treppenhaus übergeben. Die Polizisten hätten gerade die Tür zur Wohnung aufbrechen wollen. Zu der Wohnung, die jetzt nicht mehr seine ist. Trotzdem denkt er gerade nicht an seine Wohnungslosigkeit, sondern an andere Menschen in Not: „Wir müssen jetzt dafür kämpfen“, sagt er, „dass niemand mehr aus seiner Wohnung geschmissen wird.“ Die Solidarität vor seiner Haustür beeindruckt ihn: „Dass so viele Menschen hier sind, gibt mir Kraft.“

Mehr zum Thema: Unser Online-Dossier über Zwangsräumungen.

Text: Benjamin Laufer
Fotos: Mauricio Bustamante