Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani

Was Armut mit Kindern macht

Soziologe, Bildungs- und Migrationsforscher: Aladin El-Mafaalani. Foto: Lutz Jäkel/laif

Eine Kindheit in Armut kann Menschen ihr Leben lang prägen, sagt der Soziologe Aladin El-Mafaalani. Gute Schulen könnten helfen.

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Hinz&Kunzt: Professor Doktor El-Mafaalani, wie wichtig ist es Ihnen, mit Ihren Titeln angesprochen zu werden?

Aladin El-Mafaalani: Gar nicht wichtig.

Hat das vielleicht auch mit Ihrem Elternhaus zu tun – mit Ihrer sozialen Herkunft?

Mein Vater hat auch einen Doktortitel, ihm ist es wichtiger als mir. Er kommt selbst aus einem nichtakademischen Haushalt, vielleicht besteht er deshalb darauf, dass es überall draufsteht.

Wie sehr prägt das Milieu, in dem wir aufwachsen, unsere Sicht auf die Welt als Erwachsene?

Das prägt sehr. Menschen interessieren sich für unterschiedliche Dinge, je nachdem, ob sie arm oder wohlhabend aufwachsen. Zugespitzt gesagt wollen diejenigen, die arm aufwachsen, genau das, was ihnen fehlt: Reichtum und Ruhm. Deswegen ist jede Form von Anerkennung und Wohlstand für sie enorm wichtig. Denjenigen, die damit aufwachsen, ist das nicht so wichtig, weil es für sie selbstverständlich ist.

Kinder, die in Armut aufwachsen, werden zu „Insolvenzverwaltern des Alltags“, schreiben Sie in Ihrem Buch „Mythos Bildung“. Was meinen Sie damit?

Ihr Alltag ist geprägt von einem allgemeinen Mangelzustand: Sie haben zu wenig Geld, zu wenig Anerkennung und zu wenig Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Eigentlich ist von allem zu wenig da. Kinder entwickeln dann eine Mentalität, diesen Mangel zu managen. Ein Insolvenzverwalter muss kurzfristig handeln, darf nicht experimentieren und muss jedes Risiko vermeiden. Diese Handlungsmuster entwickeln auch arme Kinder.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Wenn kein Geld da ist, haben Kinder wenige Möglichkeiten für ihre Freizeitgestaltung. Haben sie dann einmal eine Routine entwickelt, mit der sie einigermaßen zurechtkommen, machen sie das fast ausschließlich. Deswegen gibt es in solchen Milieus manchmal viel Medienkonsum oder andere Aktivitäten, die die Kinder täglich machen. Deutlich wird das immer, wenn man sie mit Kindern vergleicht, die in der gleichen Stadt wohlhabend aufwachsen: Die sind oft in zwei Sportvereinen und gehen allen möglichen Aktivitäten nach.

Aladin El-Mafaalani

ist Soziologe und Inhaber des Lehrstuhls für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Osnabrück. Er hat mehrere Bücher zu Bildung und Migration veröffentlicht. In „Mythos Bildung“ beschäftigt er sich mit Problemen des deutschen Bildungssystems.

Klingt so, als könnten Kinder sich sehr gut an ihre Lebensumstände anpassen. Wieso ist das trotzdem ein Problem?

Das ist eine super sinnvolle und hochrationale Form der Anpassung an diese Umstände. Zum Problem wird es zum Beispiel, weil diese Menschen dazu tendieren, nicht zu partizipieren. Wenn ich nur Sinn in etwas erkenne, das mir einen unmittelbaren und kurzfristigen Nutzen verschafft, dann beteilige ich mich nicht daran, wenn in einem Stadtteil ein Bürgerdialog stattfindet, bei dem gefragt wird, wie „Wir“ in 20 Jahren leben wollen. Für ein abstraktes „Wir“ und den langen Zeithorizont von 20 Jahren muss man Spielraum haben – und arme Menschen sind in der Regel durch ihre prekären Rahmenbedingungen fremdbestimmt. Dann wird der Stadtteil aber von anderen geplant. Und gerade solche langfristigen Planungen sind die entscheidenden.

Armut als Demokratieproblem also.

Ein anderes Beispiel: Diejenigen, die arm aufwachsen, wollen nicht die Gesellschaft verändern, sondern nur ihren Platz in der Gesellschaft. Diejenigen, die wohlhabend aufwachsen, tendieren eher dazu, die Gesellschaft ändern oder zumindest gestalten zu wollen. Deswegen werden soziale Bewegungen wie „Fridays for Future“ immer Probleme damit haben, benachteiligte Menschen zum Mitmachen zu animieren.

In Ihrem Buch haben Sie analysiert, wie Kinder aus armen Familien in der Schule zurechtkommen. Auch da spielen die genannten Erfahrungen eine Rolle.

Wenn man sich immer fragt, wofür etwas gut ist und was einem das bringt, hat man für die Hälfte der Schulfächer kaum Motivation. Klassischerweise soll Bildung in Deutschland gerade nicht funktional, sondern ein Selbstzweck sein. Das ist ein schönes Ideal, aber man dürfte das eben nicht voraussetzen, sondern müsste den Kindern erstmal beibringen, etwas des Lernens wegen zu lernen.

Um in Ihrem Modell zu bleiben: Was würde das den Kindern denn bringen?

Wir sehen in Langzeituntersuchungen, dass die Investitionen, die keinen unmittelbaren Nutzen haben, langfristig extrem sinnvoll für die Kinder sind. Man könnte ja zum Beispiel sagen, ein Musikinstrument zu lernen macht nur Sinn, wenn man Musiker werden will. Man lernt dabei indirekt aber total viel, was man für die weitere Biografie und den schulischen Erfolg braucht.

Zum Beispiel?

Man lernt, sich Mühe zu geben, auch wenn es sich erst am Ende eines langen Prozesses gut anhört. Und man lernt, dass man alleine üben muss, um später mit anderen im Team zusammen Musik machen zu können. Derzeit ist das Lernen eines Musikinstruments extrem ungleich in der Gesellschaft verteilt, je nachdem, wie wohlhabend die Eltern sind. Es wäre deshalb enorm sinnvoll, wenn alle Kinder in Deutschland in einer Ganztagsschule ein Musikinstrument lernen würden.

In Hamburg bekommen Schulen je nach sozialer Zusammensetzung der Elternschaft unterschiedlich viel Geld, zum Beispiel für kleinere Klassen oder pädagogische Fachkräfte. Reicht das aus, um die Benachteiligung auszugleichen?

Das ist auf jeden Fall erst mal sinnvoll. Man muss ja ausgleichen, dass die Eltern aus ganz verschiedenen Gründen nicht in der Lage sind, ihre Kinder so zu fördern, wie Eltern an anderen Schulen das können. Es wäre auch außergewöhnlich schlimm, wenn die Kinder auch in der Schule Mangel erleben und die Lehrkräfte sich selbst wie Insolvenzverwalter verhalten würden. Die Kinder müssen die Möglichkeit bekommen, sich lange freiwillig in einer sehr gut ausgestatteten Schule aufzuhalten. So wird diese Routine der Mangelverwaltung durchbrochen, und man kann verhindern, dass dieses Denkmuster als Erwachsener Teil der Persönlichkeit wird. Sonst wird man das sein Leben lang kaum wieder los.

Man kann also in der Schule die Folgen von Armut abmildern. Aber wäre es nicht viel sinnvoller, den Mangel in den Familien abzustellen und mit dem Geld ihre Armut zu lindern, statt es in die Schulen zu investieren?

Unsere Gesellschaft lässt Kinderarmut systematisch zu. Sie provoziert sie nicht, aber sie tut sehr wenig dagegen, dass Kinder in Verhältnissen aufwachsen, in denen sie kaum noch angemessen gefördert werden können. Sie tut erst etwas, wenn die Kinder schon arm sind, und versucht dann, die Situation etwas zu lindern. Es wäre natürlich am allergünstigsten, wenn Kinder nicht in strukturellen Mangelverhältnissen aufwachsen würden. Das würde aber nicht die Schulen davon entbinden, ganztags etwas anzubieten, weil trotzdem nicht alle Eltern in gleicher Weise ihre Kinder unterstützen könnten.

Während der Pandemie haben Kinder aus armen Familien besonders unter Schulschließungen gelitten. In Hamburg haben Schüler:innen zum Ausgleich für den ersten und mittleren Schulabschluss in den vergangenen zwei Jahren immerhin weniger Prüfungen ablegen müssen, um mehr Zeit zum Aufholen zu haben. Die Schulen haben auch freiwillige „Lernferien“ und andere Förderkurse angeboten. Reicht das?

Das alles schadet nicht. Ob es einen positiven Effekt hat, werden wir noch sehen, aber es ist sicher nicht ausreichend. Alle Untersuchungen zeigen, dass nicht alle Kinder und Jugendlichen in gleicher Weise unter den Pandemiebedingungen gelitten haben. Je jünger und je benachteiligter die Schülerinnen und Schüler sind, desto stärker sind ihre Lernrückstände. Bei armen Kindern in der Grundschule sind sie also am stärksten. Durch die Pandemie hat auch der Migrationshintergrund von Kindern eine viel stärkere Bedeutung bekommen, weil sie oft nur außerhalb des Zuhauses Deutsch sprechen lernen.

Wie geht es jetzt mit diesen Kindern weiter?

Man kann nicht alle Kinder die Klassen wiederholen lassen, dafür fehlen uns die Lehrer und die Räume. Sie werden fast vollständig versetzt werden. Die Lernrückstände sind für sie ein großes Pro­blem, weil zum Beispiel im Matheunterricht alles aufeinander aufbaut und vergangene Inhalte vorausgesetzt werden. Wir werden also in der 9. und 10. Klasse immer mehr Jugendliche sehen, die in Mathe gar nichts mehr verstehen. Dem muss man gegensteuern, aber das ist bei Weitem noch nicht zufriedenstellend passiert.

Wenn Sie sich eine Maßnahme aussuchen dürften, um Ungerechtig­keiten in der Schule zu bekämpfen,
welche wäre das?

Ab 2026 wird der Anspruch auf einen Ganztagsschulplatz in der Grundschule umgesetzt. Wenn ich mir nur eine Sache aussuchen dürfte, würde ich die Grundschulen mit den Mitteln ausstatten, mit denen sie extrem gute Rahmenbedingungen für den Ganztagsunterricht schaffen können – und den flächendeckenden Ganztag dann sukzessive auf die höheren Jahrgangsstufen ausweiten. Um Benachteiligungen auszugleichen, muss man Ungleiches ungleich behandeln, denn wenn man alle gleich behandelt, erhält man die bestehende Ungleichheit aufrecht. Diejenigen, die schlechte Voraussetzungen haben, müssen also besonders und zielgerichtet gefördert werden. Das erreicht man mit gut ausgestatteten Ganztagsschulen, die in der Lage sind, auf die Kinder individuell einzugehen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Artikel aus der Ausgabe:

wild wilder Wald

Warum Wälder in der Stadt unverzichtbar sind, wo man trotzdem noch Wohnungen bauen kann und wieso der Sachsenwald zwielichtige Gestalten anzieht. Außerdem: Armutsbetroffene protestieren und Bildungsforscher Aladin El Mafaalani erklärt, was Armut mit Kindern macht.

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Autor:in
Benjamin Buchholz
Benjamin Buchholz
Früher Laufer, heute Buchholz. Seit 2012 bei Hinz&Kunzt. Redakteur und CvD Digitales.

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