Annemarie Knapp ist tot. Die erste Organisatorin des Mitternachtsbusses, die selbst einmal obdachlos war, ist nur 48 Jahre alt geworden. Sie hinterlässt ihre beiden Töchter Jennifer (27) und Jacquelin (25). Und auch wir trauern um Annemarie, einen ganz besonderen Menschen, mit Ecken und Kanten und vor allem mit einem riesigen Herzen.
(aus Hinz&Kunzt 246/August 2013)
Annemarie war schon wer. Wir lernten sie 1995 kennen. Damals war sie Ende 20, hatte zwei Kinder (sechs und acht Jahre alt) und lebte in einer staatlichen Familienunterkunft. Sie war lebendig und großherzig, aber auch impulsiv „und immer auf der Suche“, wie ein Freund sie charakterisiert. Ursprünglich stammte sie aus Osdorf, mit ihrer Familie hatte sie sich überworfen. Warum, darüber wollte sie nicht sprechen. Aber es gab einen Menschen, der ihr immer Liebe gegeben hatte: ihre Oma in Finkenwerder. „Finkenwerder war deshalb immer ein Ort, an dem sie mal leben wollte“, sagen ihre Töchter. Und ihre letzte Wohnung war dann tatsächlich in Finkenwerder.
Sie heiratete früh, bekam ihre Kinder Jennifer und Jacquelin. Die Ehe ging auseinander, und Annemarie, die eine Ausbildung als Krankenpflegerin hatte, wollte eine Umschulung zur Heilerzieherin machen. Für die Dauer ihrer Umschulung wollte sie Jenny und Jacky zu ihrer Schwester geben. Das Sozialamt, von dem Annemarie abhängig war, verlangte, dass sie in eine kleinere Wohnung ziehen sollte. Schließlich seien die Kinder ja nicht mehr bei ihr. „Aber wir sollten ja nur vorübergehend woanders wohnen“, sagt Jenny. Annemarie wollte nicht umziehen, holte sich aber auch keine Hilfe – und mit Druck und Autoritäten hatte sie so ihre Probleme. „Da wurde sie leicht bockig“, sagt Jacquelin. Sie verlor ihre Wohnung und ging auf die Straße. Oft übernachtete sie im Hammer Park.
Die Kinder fühlten sich bei der Schwester allerdings nicht wohl, hatten Heimweh. Jenny konnte nichts mehr essen. Eigentlich wollte Annemarie es verhindern, mit den Kindern in eine öffentliche Unterkunft zu ziehen, aber dann nahm sie das Angebot doch an.
Und machte das Beste draus: „In der Unterkunft gab es viele Kinder, die kamen immer zu uns“, sagt Jacky. Nicht unbedingt wegen der beiden Mädchen, sondern wegen Annemarie. „Unsere Mutter war so etwas wie der Mittelpunkt, sie dachte sich Spiele für uns aus und unternahm viel mit uns, soweit das finanziell möglich war.“ Offensichtlich gefiel das auch pflegen und wohnen. Der Unterkunftsbetreiber bot Annemarie an, eine Kindergruppe zu gründen. „Das war toll“, erinnern sich ihre Töchter. „Wir haben Ausflüge an die Elbe gemacht, sind zum Hafen gefahren, haben viel erlebt.“
Annemarie liebte die Arbeit beim Mitternachtsbus
Das war auch der Zeitpunkt, an dem wir sie kennenlernten. Auch unser Gründer und damaliger Diakoniechef Stephan Reimers wurde auf Annemarie aufmerksam. Er war von ihrer Herzlichkeit und ihrem Engagement sehr angetan. Für sein neuestes Projekt suchte er eine Koordinatorin und Vertrauensperson: Der Mitternachtsbus, der bis heute abends und nachts die Schlafplätze von Obdachlosen ansteuert, ihnen Getränke anbietet, einen Schlafsack – und überhaupt Hilfe. Annemarie bekam 1996 eine 28,5-Stunden-Stelle, zog mit den Kindern in eine eigene Wohnung – und war in ihrem Element. „Sie liebte diese Arbeit“, sagen Jacky und Jenny. Manchmal sind auch die beiden Mädchen mitgefahren.
Eines Nachts beispielsweise hatte Annemarie einen schwer kranken Mann beobachtet, der ein offenes Bein hatte, aber nicht zum Arzt gehen wollte. Sie schickte ihre Kollegen mit dem Bus weiter und blieb die ganze Nacht bei dem Mann, um mit ihm zu reden. Über Gott und die Welt. „Stunden später sprach sie es zum ersten Mal aus: Du musst ins Krankenhaus, sonst verlierst du dein Bein!“ Endlich stimmte der Mann zu. „Jahre später“, erzählt Jacky, „kam der Mann mit einem Blumenstrauß vorbei.“ Das Bein war gerettet worden, er selbst hatte in ein normales Leben zurückgefunden und sogar eine Familie gegründet. „Du hast mir das Leben gerettet!“, sagte er zu Annemarie. „Entscheidend beim Mitternachtsbus ist nicht die heiße Brühe“, hatte Annemarie einmal in einem großen Artikel über sich in der „Welt“ gesagt. „Entscheidend sind die Gespräche, die Achtung und die Zuwendung, ich weiß, wovon ich rede.“ Der Artikel erschien im Dezember 1999 – zu ihrem Abschied beim Mitternachtsbus. Die „Welt“ würdigte sie damals: „Annemarie Knapp leistete Pionierarbeit.“
„Sie hat Frieden geschlossen mit ihrer Vergangenheit“, sagen ihre Kinder.
Der Abschied war hart: Nach drei Jahren war Annemaries geförderte Stelle ausgelaufen. Der Träger, das Diakonische Werk, konnte Annemarie nur eine Halbtagsstelle anbieten. Doch das war ihr zu wenig, davon konnte sie nicht leben. Was sie nicht wusste: dass sie nie wieder eine solche Chance bekommen sollte. Bis zu ihrem Tod arbeitete sie weiter im sozialen Bereich, aber immer nur in Teilzeit oder geringfügig beschäftigt. Und die Stelle beim Mitternachtsbus war natürlich inzwischen anders besetzt. Es gab keinen Weg zurück. Trotzdem ist Annemarie in ihren letzten Jahren ein wenig zur Ruhe gekommen. „Und sie hat Frieden geschlossen mit ihrer Vergangenheit und den Problemen, die sie belastet haben“, sagen ihre Kinder. Geholfen haben ihr dabei eine Therapie, ihre Töchter, Freundinnen – und die Hinwendung zur Esoterik.
So konnte sie vielleicht auch besser akzeptieren, dass sie so früh vom Leben Abschied nehmen musste. Im vergangenen Jahr bekam sie die Diagnose: Lungenkrebs. Vier Chemotherapien machte sie. Die letzten Wochen verbrachte sie im Hospiz. Am 27. Juni starb sie. Für ihre Töchter ist der Abschied schwer. Aber sie haben einen Trost. „Wir haben beide ganz viel von ihr mitbekommen“, sagen sie. Zum Beispiel und nicht zuletzt: Liebe.
Text: Birgit Müller
Foto: privat