Fotografin Irina Ruppert dokumentiert den drohenden Zerfall ihrer geliebten Nachbarschaft. Denn viele fürchten, dass für sie kein Platz mehr ist, wenn der neue Fernbahnhof kommt.
Diebsteich: Das ist der S-Bahnhof, der gerade abgerissen wurde. Der Ort, an dem Platz geschaffen werden soll für den umstrittenen neuen Altonaer Fernbahnhof. Ansonsten: Lagerhallen, Handwerksbetriebe, geparkte Lastwagen, einige Friedhöfe. Das ehemalige Thyssenkrupp-Schulte-Industrieareal, das seit Jahren ungenutzt verfällt. Aber ein lebenswertes, ja liebenswertes Quartier? „Ich fand es damals unschön“, sagt Fotografin Irina Ruppert. Wenn sie durch den finsteren Tunnel von der S-Bahn nach Hause lief, telefonierte sie immer mit ihrem Freund, um sich sicherer zu fühlen.
Ruppert war 24, als sie aus Liebe an den Diebsteich zog. Heute, 30 Jahre später, wohnen sie und ihr Partner noch immer dort, in der Wohnung, die damals ihre WG war. Die Ruhe nach Feierabend, die schönen Friedhöfe und Schrebergärten, die zentrale Lage – all das möchte Ruppert heute nicht mehr missen. Vor allem ihre Nachbarinnen und Nachbarn sind ihr ans Herz gewachsen: nicht zahlreich, aber treu und vertraut seit Jahrzehnten.
Jetzt sitzen viele auf gepackten Koffern. Das Viertel wird sich tiefgreifend verändern, ein „modernes urbanes Stadtquartier“ schwebt den Planer:innen vor, mit Musikhalle und Sportzentrum. All das kann für die Nachbarschaft auch neue Lebensqualität bedeuten – Ruppert verhehlt das nicht. Doch viele ihrer heutigen Nachbar:innen befürchten, dass für sie dann kein Platz mehr sein wird. Einige verkaufen ihre Wohnungen aus Sorge um bevorstehenden Baulärm oder Trubel im neuen Quartier, manche Gewerbe seien schon umgezogen, weil Mietverträge nicht verlängert wurden, sagt Ruppert. „Man spürt, hier wird sich bald etwas Großes verändern.“ Aber wie sich das Leben im Quartier danach anfühlen wird, wisse niemand.
Mit ihrem Projekt „Diebsteich“ dokumentiert Fotografin Ruppert ihre Nachbarschaft, die sich langsam auflöst. Sie zeigt die Menschen, die hier jede:r kennt, an ihren Wirkungsstätten – besonders in Szene gesetzt durch einen gerahmten weißen Hintergrund, den andere für sie halten. So habe sie die Menschen vor der Kamera in Interaktion gebracht, erläutert Ruppert. „Mich haben die Beziehungen interessiert: Wie nahe kommen sich die Personen? Über welche Themen unterhalten sie sich?“ In der Dokumentation dieser Begegnungen schwingt etwas mit, das das nachbarschaftliche Beziehungsgeflecht bis heute prägt: Erinnerungen an einen gemeinsamen Alltag.
Es ist Rupperts Lebensthema, viele ihrer Arbeiten handeln von Heimat, Herkunft und Verlust. „Weil ich den Umzug in eine fremde Kultur selbst erfahren habe“, sagt sie. Ruppert stammt aus Kasachstan, als Achtjährige kam sie nach Deutschland. Die Sowjetunion ließ die Eltern nur mit den minderjährigen ihrer sieben Kinder ziehen, die älteren mussten bleiben. Jahrelang habe sie ihre Geschwister und ihr Zuhause vermisst, erzählt Ruppert. Ihre neue Heimat, das sei ihr „Dorf“ am Diebsteich. Sie werde bleiben, solange es gehe. Doch nun muss sie sich fragen, ob dieser sich wandelnde Ort wirklich ihre Heimat bleibt.
Ihr Fotoprojekt sei eine Art Archiv, sagt Ruppert. Gefördert wird die Arbeit mit dem „Georg Koppmann Preis für Hamburger Stadtfotografie“, den die Stiftung Historische Museen Hamburg gemeinsam mit der Stadtentwicklungsbehörde genau für solche Vorhaben ausschreibt: In der Tradition des Fotografen, der Ende des 19. Jahrhunderts den Wandel der Stadt dokumentierte, soll auch heute festgehalten werden, wie bauliche Veränderungen den Lebensalltag der Menschen in Hamburg prägen. 2023 werden erstmals zwei Fotografinnen ausgezeichnet: Neben Irina Ruppert erhält auch Alexandra Polina ein Arbeitsstipendium für ihr Projekt „Der Steindamm-Atlas“.
Vom 9. Juni an werden die Bilder von Ruppert, Polina und den vorherigen Preisträger:innen im Museum der Arbeit gezeigt. Mit der Ausstellung ist Rupperts Projekt aber noch lange nicht abgeschlossen. „Ich werde am Diebsteich noch lange weiterarbeiten, vielleicht länger als zehn Jahre“, sagt sie. Sie beeile sich nun, diejenigen zu treffen, die schon wissen: Wir werden gehen.