Viele obdachlose und arme Menschen sind darauf angewiesen, dass Ämter niedrigschwellig erreichbar sind. Doch Jobcenter schotten sich ab und verweisen auf Digitalangebote.
Aziz kann nicht mehr. Erst verlor der Hinz&Kunzt-Verkäufer seine Wohnung. Nun ist er auch noch komplett pleite. Sein Geld vom Jobcenter ist nicht bei ihm angekommen. Weil Aziz kein Bankkonto hat, bekommt er das Bürgergeld nämlich per Barscheck ausgezahlt. Doch nach dem Wohnungsverlust hätte der 41-Jährige dem Jobcenter eine neue Adresse mitteilen müssen. Nun ist der Barscheck an die alte Wohnung geschickt worden und verschollen. Um die Sache zu klären, geht Aziz spontan zum Jobcenter in der Kleinen Reichenstraße, das sich extra an Wohnungslose richtet. Er zieht eine Nummer, 15 Minuten später erläutert er einer Mitarbeiterin sein Problem. Die nimmt schließlich das komplizierte Formular für die Adressänderung entgegen, das Aziz vor Ort bekommen und ausgefüllt hat. Dann bespricht sie mit ihm das weitere Vorgehen: Künftig geht der Scheck an ein Postfach von Hinz&Kunzt. Wie andere soziale Träger bietet das Straßenmagazin Adressen für Obdachlose an. Zwar ist der zwischenzeitlich versendete Scheck noch verschollen – doch ein kurzfristig vereinbarter Telefontermin mit dem bisher für Aziz zuständigen Jobcenter Rahlstedt klärt die Sache einige Tage später auf.
Das Beispiel des obdachlosen Hinz&Kunzt-Verkäufers zeigt, was die Hamburger Sozialbehörde so ausdrückt: „Das persönliche Gespräch ist unerlässlich und kann durch andere Kommunikationsmöglichkeiten nur flankiert werden.“ Doch ein offenes Amt wie das Jobcenter Kleine Reichenstraße ist mittlerweile die Ausnahme. Andere schotten sich zunehmend ab, vergeben Termine nur noch nach vorheriger Buchung über ein Onlineformular oder über eine Telefonhotline.
Für Constantin ist das keine Option. Bislang hat der 66-jährige Hinz&Kunzt-Verkäufer Geld vom Jobcenter bekommen. Doch Ende Juli lief sein Leistungsbescheid aus und das Jobcenter hat seine Zahlungen kommentarlos eingestellt. Einen sogenannten Weiterbewilligungsantrag beim Jobcenter hat er schon vor Wochen gestellt – nur gehört hat er seitdem nichts. Durch die fehlenden Zahlungen ist Constantins Krankenkassenkarte gesperrt, er kann weder zum Arzt gehen noch seine dringend benötigten Medikamente bekommen. Und irgendwie muss er seine Miete bezahlen. Seit vergangenem Jahr lebt Constantin nach Jahren der Obdach- und Wohnungslosigkeit nämlich endlich in einer kleinen Sozialwohnung. Um die Situation aufzuklären, macht sich Constantin Anfang August im Dauerregen auf den Weg zum Jobcenter Mitte. Weil er nicht mehr auf der Straße lebt, ist das für ihn zuständig. Einen Computer hat der Rumäne nicht, und das Telefonieren auf Deutsch fällt ihm schwer.
An diesem Morgen ist auf dem Amt wenig los. Neben vereinzelten Kund:innen laufen drei Sicherheitsangestellte durch den Warteraum, zwei weitere sitzen hinter Glasscheiben am Empfang. Ob er einen Termin ausmachen könne, fragt Constantin in Begleitung des Autors. „Warum haben Sie keinen?“, bekommt er als Antwort zu hören. Dazu erhält er nach kurzer Belehrung ein Blatt Papier mit einer Telefonnummer. Auf Deutsch. Dort solle er anrufen und einen Termin vereinbaren, anders könne man ihm nicht helfen. Ob es auch die Möglichkeit gebe, hier, vor Ort einen Termin zu vereinbaren? Immerhin sei er nun da und das mit dem Telefonieren so eine Sache. „Termine gibt es nur online oder per Telefon.“ Ob ein Dolmetscher weiterhelfen könnte, fragt Constantin. In seiner Muttersprache ließe sich das Missverständnis bestimmt auflösen. Und immerhin wirbt das Arbeitsministerium im Internet für die spontane und kostenlose Dolmetscherhotline der Jobcenter. „So was gibt es hier nicht. Hier spricht niemand Rumänisch“, lautet die Antwort. Wenn er es selbst nicht schaffe anzurufen, so der Amtsmitarbeiter, müsse er sich eben Hilfe holen.
Die Hamburger Jobcenter verweisen auf Hinz&Kunzt-Nachfrage darauf, dass es grundsätzlich immer auch möglich sei, Termine am Schalter zu buchen und dort auch Dokumente abzugeben. Zudem arbeite man mit verschiedenen Dolmetscherangeboten und habe spezielle Übersetzungsgeräte angeschafft. Warum das in diesem Fall nicht funktionierte? Unklar.
Constantin muss unverrichteter Dinge gehen. „Großes Problem! Keiner im Jobcenter sprechen mit mir“, sagt er auf dem Weg zu Hinz&Kunzt und schaut ratlos. Immer wieder muss er beim Gehen Pausen machen: Constantins jahrzehntelange Arbeit als Aushilfskraft, zuletzt in einer Küche, macht sich bemerkbar. Die Hüfte spielt nicht mehr mit. Nach der Ankunft im Hinz&Kunzt-Haus ruft er mithilfe des Autors die Jobcenter-Hotline an. Nach knapp zehnminütiger Warteschleifenmusik meldet sich eine Mitarbeiterin. Ob der Autor eine Vollmacht hat, um in Constantins Namen einen Termin auszumachen? Nein? Schwierig! Ob Constantin seine Bedarfsgemeinschafts-Nummer parat hat? Auch nicht? Auch schwierig. Constantins Namen könne sie im Programm nämlich nicht finden. Was denn überhaupt das Problem sei? Dafür brauche er keinen Termin. Er könne sich einfach einen Weiterbewilligungsantrag im Jobcenter abholen. Den müsse er dann nur noch ausfüllen und in den Briefkasten werfen. Also alles wieder von vorne?
Für Hinz&Kunzt-Sozialarbeiterin Irina Mortoiu sind Probleme wie die von Constantin Alltag. Weil die Kommunikation mit den Jobcentern immer hochschwelliger werde, bleibe die Arbeit letztlich an Sozialarbeiter:innen hängen. „Wir kommen uns wie der verlängerte Arm des Jobcenters vor“, klagt die 49-Jährige. Regelmäßig komme es vor, dass Anträge, die im Briefkasten des Jobcenters eingeworfen werden, verschwinden. Auf Hinz&Kunzt-Nachfrage teilt die Pressestelle der Hamburger Jobcenter mit, ihr sei nicht bekannt, dass Post häufig verschwinde. In Einzelfällen könne es aber nicht ausgeschlossen werden. Um sicher zu gehen, schickt Irina Mortoiu wichtige Dokumente deshalb immer öfter per E-Mail ans Jobcenter. Doch seit einigen Monaten erklären die Behörden, dass die Kommunikation per E-Mail im Laufe des Jahres eingestellt wird. Sie verweisen auf das datenschutzfreundliche Portal „jobcenter.digital“ – bei dem viele Hilfesuchende allerdings schon bei der Anmeldung scheitern. Immerhin benötigen sie mindestens eine E-Mail-Adresse. Für einige Dienste sind auch ein elektronischer Ausweis und eine Postadresse nötig, an die dann wiederum ein Aktivierungspin geschickt wird. Und außerdem: „Wo sollen die Menschen ihre Unterlagen einscannen?“, fragt Mortoiu. „Das Angebot ist keine Option für diese Zielgruppe. Ich kenne niemanden, der in der Lage wäre, es zu nutzen.“
Die Sozialarbeiterin geht deshalb dazu über, den Jobcentern wichtige Unterlagen zu faxen. Gegen Digitalisierung hat Irina Mortoiu nichts einzuwenden. Aber sie müsse alle Menschen mitnehmen – und dürfe nicht dazu führen, dass die Jobcenter ihre Arbeit an das Hilfesystem aus-
lagern. Und Sozialarbeiter:innen immer mehr damit beschäftigt sind, Hilfesuchenden bei der Bearbeitung ihrer Anträge zu helfen.
Dabei sollte mit der Einführung des Bürgergeldes im Januar alles besser werden. „Es geht darum, dass Menschen, die in existenzielle Not geraten sind, verlässlich und so unbürokratisch wie möglich abgesichert werden“, sagte Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) Ende vergangenen Jahres im Bundestag: „Wir wollen nicht nur Schutz geben in Zeiten der Not. Wir wollen Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben schaffen.“
Irina Mortoiu kann bei solchen Worten nur müde lächeln. An Beispielen wie dem von Constantin zeige sich, dass das Gegenteil der Fall ist: „Das, was wir den Menschen ermöglichen wollen, nämlich Hilfe zur Selbsthilfe, das ist nicht mehr möglich.“ Der Hinz&Kunzt-Verkäufer wird die Sozialarbeiterin weiter beschäftigen. Sie hat dem Jobcenter Constantins Fall einige Tage nach dessen erfolglosem Versuch schriftlich geschildert. Doch als er mithilfe des Schreibens dem Jobcenter ein weiteres Mal seine Not erklären will, wird er von einem Mitarbeiter erneut weggeschickt. Sein Versuch, das Dokument abzugeben, ist ebenfalls erfolglos. Auch auf ein Fax von Irina Mortoiu reagierte das Jobcenter bislang nicht. Daran, dass Constantin das ihm zustehende Geld irgendwann bekommt, zweifelt die Sozialarbeiterin nicht. „Aber Constantin macht sich Sorgen und hat unnötigen Stress, den er in seinem Alter und seinem gesundheitlichen Zustand nicht bräuchte.“ Und was wäre, wenn Constantin nicht von Hinz&Kunzt unterstützt würde? „Dann würde er wahrscheinlich seine Wohnung verlieren und wieder auf der Straße landen. Auf sich allein gestellt hätte er keine Chance.“