Aus Angst vor einer Abschiebung versuchte Miroslaw Redzepovic, sich das Leben zu nehmen. Sein Vater hat sich vor acht Jahren umgebracht, weil er und seine Familie nach Serbien zurückgebracht werden sollten. Hanning Voigts hat Miroslaw getroffen.
(aus Hinz&Kunzt 216/Februar 2011)
Der junge Mann denkt nach. Er sitzt auf einem Stuhl in seiner Gefängniszelle, in der Abschiebehaft in Hamburg-Billwerder. Nach einer Weile fasst der 22-Jährige den einsamsten aller denkbaren Entschlüsse. Er nimmt einen Nassrasierer und versucht, die Klingen aus dem Griff herauszubrechen, um sich damit die Pulsadern aufzuschneiden. Aber das Plastik ist zu hart. Der junge Mann hält einen Moment inne, dann zieht er einen Schnürsenkel aus seinem Schuh, befestigt ihn am vergitterten Fenster seiner Zelle und versucht, sich zu erhängen. Kurz bevor er das Bewusstsein verliert, wird er zufällig von einem Beamten gefunden. Auf dem Tisch liegt sein Abschiedsbrief. „Ich kann nicht zurück“, steht darin. „Sie wissen nicht, was die mit mir machen. Das halte ich nicht aus.“
Einen Monat später, im Januar 2011, sitzt Miroslaw Redzepovic in einem Hamburger Café und trinkt Cola in kleinen Schlucken. Vor einer Stunde ist er aus der psychiatrischen Klinik entlassen worden, in der er seit seinem Suizidversuch behandelt wurde. Die Ausländerbehörde verzichtet auf weitere Abschiebehaft – Miroslaw ist also vorerst frei. Trotz der Erleichterung lassen seine schleppende Stimme, die Beruhigungstabletten in seiner Hand und die Unruhe in seinen Augen keinerlei Zweifel aufkommen: Hier sitzt ein schwer gezeichneter Mensch. Wie kam dieser nachdenklich wirkende junge Mann mit seinen gerade einmal 22 Jahren dazu, sich das Leben nehmen zu wollen? „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Miroslaw sucht nach Worten. Dann sagt er langsam: „Lebend gehe ich nicht zurück nach Serbien. Auch wenn ich jetzt hier mit Ihnen sitze, ist das mein voller Ernst.“
Anfang Dezember 2010 erfährt die Hamburger Öffentlichkeit von Miroslaws Suizidversuch in der Abschiebehaft in Billwerder. Wenige Monate zuvor hatten sich bereits der 25-jährige David M. aus Georgien und die 34-jährige Yeni P. aus Indonesien selbst getötet, weil sie die Angst vor einer Abschiebung nicht mehr ertragen konnten.
Wenn man solche Verzweiflungstaten verstehen will, muss man sich die Situation in der Abschiebehaft vorstellen: eingesperrt in einer Zelle, obwohl man keine Straftat begangen hat. Ohne besondere Besuchsrechte, genauso behandelt wie jeder Häftling. Für einige Wochen, manchmal aber auch monatelang. Nur damit die Ausländerbehörde einen jederzeit abschieben kann. Man muss aber auch die Geschichte der Menschen verstehen, die in dieser Lage stecken. Im Fall von Miroslaw Redzepovic ist es eine lange Geschichte voller Leid und Verlust, voller Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit. Sie beginnt Anfang der 90er-Jahre in einem kleinen Ort in Niedersachsen.
Hier, in Syke im Landkreis Diepholz, wächst Miroslaw auf. Hier besucht er den Kindergarten. Seine Eltern sind mit ihren Kindern aus Serbien nach Deutschland geflohen. Da war Miroslaw gerade zwei Jahre alt. Seine Eltern hoffen, als Angehörige der Roma-Minderheit in Deutschland Asyl zu bekommen. Die Familie wird in einer Flüchtlingsunterkunft am Rande der Stadt untergebracht, im ehemaligen Gasthof „Deutsche Eiche“. Miroslaws Vater macht schon bald von sich reden: Immer wieder spricht er bei der Ausländerbehörde im Rathaus vor, bittet inständig um eine Arbeitserlaubnis und beschwert sich über die Zustände in der heruntergekommenen Unterkunft. Aber alles Bitten hilft nichts: 1993 wird der Asylantrag der Familie endgültig abgelehnt. Im quälenden Schwebezustand einer Duldung, ständig von der Abschiebung bedroht, bleibt die Familie dennoch in Syke. Miroslaw geht zur Schule wie alle anderen Kinder.
Sein Vater Milos versucht verzweifelt, auf die Situation der Familie aufmerksam zu machen. Als in der Unterkunft zu allem Überfluss auch noch eine Wand feucht wird, räumt er 2002 alle Schränke, Betten und Matratzen vor das Haus. „Lieber draußen im Regen als in diesen Zimmern“, sagt er einem Reporter. Als die Behörden nicht reagieren, passiert ein paar Tage später das Unglaubliche: Milos Redzepovic sagt seiner Familie, er wollte Zigaretten holen. Der damals 34-Jährige fährt zum Syker Rathaus, übergießt sich mit Benzin und zündet sich an.
Slavica Laue, Miroslaws Tante, erinnert sich noch gut an diesen Tag. „Ich wollte es erst nicht glauben“, sagt die heute 34-Jährige, die wie damals mit ihrer Familie in Hamburg lebt. Voller Panik fährt sie nach Hannover, wo Milos Redzepovic in der Uniklinik behandelt wird. Das Bewusstsein hat er bereits verloren. „Wir haben mit ihm geredet“, sagt Laue. „Ich hoffe, er hat uns noch gehört.“ Miroslaw, der damals 14 ist, kann seinen Vater nur noch einmal sehen. Dann stirbt Milos Redzepovic an seinen Verbrennungen. „Den Tod seines Vaters hat Miroslaw nie verkraftet“, sagt Laue.
Ohne Vater versucht die Familie, ihr Leben weiterzuführen. Auch wenn ein paar Tage später rund 100 Syker Bürger mit einem Trauermarsch an Milos Redzepovic erinnern, bessert sich ihre Lage nicht. Im Oktober 2004 – Miroslaw ist 16 Jahre alt – steht eines Morgens die Polizei vor der Tür. Ljalje Redzepovic und ihre fünf minderjährigen Kinder müssen ihre Sachen packen und werden mit dem Bus nach Düsseldorf gefahren. Ein Flugzeug nach Serbien wartet dort auf sie.
Miroslaw erschauert heute noch, wenn er von dem Tag seiner Abschiebung erzählt. „Ich habe die ganze Zeit nur geweint“, sagt er mit leiser Stimme. „Ich habe meine Tante angerufen und ins Telefon geschrien: ‚Tante, die schieben mich ab!‘“ Wenige Stunden später steht die Familie am Belgrader Flughafen. Miroslaw kennt Serbien nur aus Erzählungen. „Das war wie in einer ganz anderen Welt, wie auf einem anderen Planeten“, sagt er. „ Das war das Schlimmste, was ich erleben konnte nach dem Tod meines Vaters.“ Miroslaw spricht kaum Serbisch, bis heute. Seine Sprachen sind Deutsch und Romanes. Weil seine Mutter mit der Situation überfordert ist, zieht er zu seiner Großmutter. Wie viele Roma besucht er keine Schule, findet keinen Job. Fast täglich wird er von irgendwem als „Zigeuner“ beschimpft.
Im Januar 2007 erlebt Miroslaw seinen schlimmsten Tag in Serbien. Auf dem Weg nach Hause gerät er in eine Polizeikontrolle. Weil er seinen Ausweis nicht bei sich hat, nehmen ihn die Polizisten mit auf die Wache. Einer von ihnen beginnt sofort, Miroslaw zu schlagen. „Das, was ich im Leben am meisten hasse, sind Albaner und Zigeuner“, brüllt er Miroslaw ins Gesicht. „Ihr verpestet unser Land!“ Erst Stunden später wird Miroslaw freigelassen, seine Großmutter rät ihm, die Polizisten anzuzeigen. Als er das tut, stehen sie wieder vor seiner Tür. „Sie meinten, ich hätte vergessen, etwas zu unterschreiben“, erzählt Miroslaw. Auf der Wache ziehen sie ihn aus und fesseln ihn im Keller an eine Heizung. Ein Polizist zerreißt vor seinen Augen die Anzeige und sagt: „Lebend kommst du hier nicht mehr raus.“ Mehrere Polizisten schlagen auf Miroslaw ein, drücken Zigarettenstummel auf seiner Brust aus und missbrauchen ihn mit einem Schlagstock. Bis heute verfolgen Miroslaw Alpträume. „Jedes Mal, wenn ich auf Toilette gehen muss, kommt alles wieder hoch“, sagt er.
Nur mit Glück überlebt Miroslaw die Folter: Ein junger Polizist lässt ihn aus Mitleid durch die Hintertür weglaufen. Miroslaw rennt zu seiner Großmutter, lässt sich von ihr etwas Geld geben und flieht zu einem Onkel nach Pozarevac, südöstlich von Belgrad. Über drei Jahre lang hält er sich dort versteckt, hilft seinem Onkel im Haushalt, verlässt selten sein Zimmer. Er weiß von seiner Großmutter, dass die Polizei ihn sucht. „Ich hatte jeden Tag Angst“, sagt er. „Mit der Angst einschlafen, mit der Angst wieder aufwachen. Mein Herz klopft noch heute wie verrückt, wenn ich eine Polizeisirene höre.“ Im Oktober 2010 kann er fliehen: Ein Bekannter seines Onkels nimmt Miroslaw mit nach Wien, von dort aus fährt er nach Potsdam. Seine Tante Slavica holt ihn ab und nimmt ihn mit nach Hamburg.
„Das war, als würde ich nach Hause kommen“, sagt Miroslaw. Er ist glücklich, wieder in Deutschland zu sein. Dass er illegal eingereist ist, verdrängt er. Als er am 16. November 2010 zufällig in eine Polizeikontrolle gerät, begreift er deshalb nicht sofort, was ihm bevorsteht: Die Beamten stellen fest, dass er keine Aufenthaltserlaubnis hat. Sie nehmen ihn mit, ein Richter ordnet auf Antrag der Ausländerbehörde sofort Abschiebehaft an. Erst in seiner Zelle denkt Miroslaw daran, dass sich der Tod seines Vaters genau an diesem Tag zum achten Mal jährt.
Die Behörde weigert sich, für Miroslaw ein neues Asylverfahren zu eröffnen. Sein erstes Verfahren in Syke sei bereits 1993 abgelehnt worden, seitdem habe sich nichts geändert, argumentiert die Behörde. Die Geschichte seiner Folter und der Flucht zu seinem Onkel sei wenig glaubhaft. Die Misshandlungen auf der Wache seien zudem bereits mehr als drei Jahre her. Fassungslos hält Miroslaw am 2. Dezember 2010 den Ablehnungsbescheid in Händen. „Als ich gelesen habe, dass die mir keinen Asylantrag genehmigen, habe ich angefangen zu weinen“, sagt er. „Und dann habe ich gedacht: Ich bringe mich einfach um.“
Miroslaws Suizidversuch ist gescheitert, aus der Abschiebehaft wurde er entlassen. Bis auf Weiteres darf er bei seiner Tante wohnen. Sein Anwalt versucht mit allen Mitteln, die immer noch drohende Abschiebung zu verhindern. Miroslaw habe als „faktischer Inländer“ ein Bleiberecht verdient, findet er. Miroslaw drückt das ohne juristische Fachbegriffe so aus: „Deutschland ist mein Land, verstehen Sie? Ich fühle mich als Deutscher.“ Ein normales Leben will er führen, sagt er. Arbeiten, am liebsten als Koch. „Ich hoffe nur, dass ich hierbleiben darf“, sagt er und streicht sich nervös über seinen Dreitagebart. „Und dass ich keine Angst mehr zu haben brauche.“
Den Roma eine Chance!
Ein Kommentar von Hanning Voigts
Wer in einem Land aufwächst und die Schule besucht, dort seine Freunde hat und seine Träume in der jeweiligen Landessprache ausdrückt – der sollte dort leben und seine Zukunft planen dürfen. In Deutschland ist das nicht der Fall: Viele Menschen sind hier fest verwurzelt und müssen das Land dennoch verlassen, nur weil sie keinen deutschen Pass haben.
Bis heute erhält man die deutsche Staatsangehörigkeit hauptsächlich durch Abstammung. Dieses Prinzip wird fast nirgendwo in Europa mehr in dieser Form angewandt und hat oft schreckliche Folgen – so wie im Fall von Miroslaw Redzepovic. Er hat den größten Teil seines Lebens in Deutschland verbracht und soll dennoch zum zweiten Mal nach Serbien abgeschoben werden. In ein Land, in dem er fremd ist. In dem er als Rom kaum eine Chance auf Bildung hat, in dem er von der Polizei ohne Grund verdächtigt und sogar misshandelt wurde. Dabei fühlt Miroslaw sich als Deutscher.
Die Angst hat Miroslaw so verzweifeln lassen, dass er sich das Leben nehmen wollte – wie sein Vater. Bei seiner persönlichen Geschichte sollten Politik und Behörden sofort dafür sorgen, dass er aus humanitären Gründen ein dauerhaftes Bleiberecht erhält.
Beim Entsetzen über diesen Einzelfall darf aber nicht vergessen werden, wie viele Roma etwa aus dem ehemaligen Jugoslawien ein ganz ähnliches Schicksal haben. In ganz Europa werden sie diskriminiert, ausgegrenzt oder verfolgt. In einer besonders schweren Lage befinden sich aktuell die vielen Roma, die 1999 vor dem Krieg im Kosovo nach Deutschland geflohen sind. Etwa 10.000 von ihnen sind akut von Abschiebung bedroht, darunter auch 3000 Kinder und Jugendliche, die in Deutschland geboren wurden oder hier aufgewachsen sind. Sie sind hier zu Hause, genau wie Miroslaw. Im Kosovo haben sie keine Zukunft. Es wird Zeit, dass Bund und Länder die Forderungen von Pro Asyl, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen und den christlichen Kirchen ernst nehmen: Nicht nur Miroslaw, sondern auch Tausende anderer Roma brauchen endlich eine dauerhafte Lebensperspektive in Deutschland.