Auf den Leib geschneiderte Maßkleidung tragen nur Leute, die Geld haben? Stimmt nicht! Zwei Hamburger Designstudentinnen haben erstmals für Obdachlose Kleidungsstücke entworfen, die genau ihren Bedürfnissen entsprechen.
(aus Hinz&Kunzt 206/April 2010)
Torsten Meiners dreht sich immer wieder vorm Spiegel hin und her. Zufrieden streicht er über seine neue, leuchtend blaue Fleeceweste. „Super Material“, freut er sich, „klasse Verarbeitung!“ Wenn der Kunde glücklich ist, freuen sich auch die beiden Designerinnen Lourdes Schulz und Esther Stühmer. Nur eine Kritik hat Torsten: „Die Ärmel könnten etwas enger sein.“ Sofort stecken die Designerinnen die Ärmel ab und prüfen mit Kennerblick, ob ansonsten alles sitzt. „Passt“, nickt Esther. Die professionelle Atmosphäre lässt vergessen, dass hier statt eines Maßanzuges eine Fleeceweste angepasst wird, und dass der Kunde nicht Bankchef ist, sondern Hinz&Kunzt-Verkäufer.
Maßbekleidung für Obdachlose – was eigentlich undenkbar ist, begann im Oktober 2009 mit einer spontanen Idee. Beim Durchblättern einer Modezeitschrift fragten sich Esther und Lourdes, die Produktdesign an der Hamburger Hochschule für bildende Künste (HfbK) studieren, warum Modedesign so häufig nur die Bedürfnisse von wohlhabenden Menschen im Blick hat. Warum kümmerte sich eigentlich niemand um die Ansprüche, die Obdachlose an ihre Kleidung stellen?
Nach ersten Recherchen beim „Obdachlosenbus“ des Deutschen Roten Kreuzes, bei Hinz&Kunzt und auf der Straße mussten die beiden 28-Jährigen feststellen, dass ihre erste Idee einer eigenen „Kollektion für Obdachlose“ völlig naiv war.
Sie hatten gedacht, die Kleidung für Menschen auf der Straße müsse nur warm und wasserabweisend sein. „Je mehr wir aber über Obdachlosigkeit gelernt haben, desto klarer wurde uns, dass Bekleidung für Obdachlose individuell sein muss“, sagt Lourdes, „so wie die Menschen und ihre Geschichten.“
Schließlich fanden die beiden Studentinnen vier Obdachlose, die gerne an dem Projekt teilnehmen wollten: die Hinz&Künztler Angelika, Christian und Torsten sowie Abdul Rassol, den sie von der Straße kannten. In ausführlichen Interviews erfragten sie die Bekleidungsbedürfnisse ihrer außergewöhnlichen Kunden. „Wir wollten alles in Erfahrung bringen“, erklärt Lourdes, „was für Kleidung die vier brauchen, was ihnen bei Material und Ausstattung wichtig ist.“ Esther nickt und ergänzt: „Schließlich ist deine Kleidung ja so etwas wie dein Haus, wenn du auf der Straße lebst. Deshalb muss sie genau zu dir passen.“
Interviews, Entwürfe, Skizzen, Materialstudien – Esther und Lourdes stürzten sich mit vollem Einsatz in das Projekt. Aus Altkleidern verschiedener Kleiderkammern entstanden individuelle Kleidungsstücke, die man so nirgends kaufen könnte. Torsten zum Beispiel ist seit März auf einer Wandertour durch Deutschland unterwegs.
Er liest Schulkindern aus dem Hinz&Kunzt-Kinderbuch „Ein mittelschönes Leben“ vor. Mit seiner sportlichen Fleeceweste mit abnehmbaren Ärmeln ist er dabei ab jetzt für jedes Wetter gerüstet, eine Extra-Innentasche bietet Platz für das Kinderbuch. Außerdem erfanden Lourdes und Esther nach seinen Vorstellungen ein spezielles Regencape, auf das eine politische Botschaft gedruckt ist: „Jeder braucht es, jeder kriegt es: Grundeinkommen.“
Christian dagegen wollte ein Kleidungsstück, in dem seine drei Mäuse Platz haben. Die kleinen Tiere saßen bisher immer im Kragen seiner Jacke. Lourdes und Esther designten eine spezielle Kapuze, die sie scherzhaft „den Mäusehelm“ tauften. Auf der Innenseite hat die Kapuze Tunnel aus Stoff, sodass die Tiere auf Christians Kopf klettern und sogar oben aus der Kapuze schauen können. Abdul, der seit sieben Jahren auf der Straße lebt, trug gegen die Kälte bisher immer mehrere Sweatshirts übereinander. Das wird jetzt nicht mehr nötig sein: Der Pullover, den die beiden Studentinnen für ihn erfanden, besteht aus zwei Schichten, zwischen die wärmende Luftkammern genäht sind. Und Angelika bekam eine spezielle rote Gürteltasche genäht, in der alle wichtigen Dinge wie Schlüssel oder Geld Platz finden, und außerdem einen Mantel, wie sie ihn schon immer haben wollte.
Dass Esther und Lourdes im Laufe des Projekts mehrfach an ihre Grenzen stießen, lag weniger an den kreativen, sondern eher an den zwischenmenschlichen Herausforderungen. Torsten zum Beispiel ist zwar zuverlässig, hat aber wie viele Obdachlose kein Telefon. Esther konnte den 46-Jährigen nicht spontan anrufen, wenn sie eine Frage hatte. Bei Abdul weiß man meistens nicht so genau, wo er gerade steckt – Lourdes brauchte oft lange, um ihn an seinen üblichen Aufenthaltsorten zu finden. Außerdem braucht man für ein Gespräch mit ihm viel Geduld, weil er stets lange nachdenkt und sehr leise spricht. Und Christian ist nach vielen schlechten Erfahrungen mit Menschen etwas misstrauisch geworden. Es dauerte, bis der 27-Jährige davon überzeugt war, dass die beiden Studentinnen ihm wirklich etwas Gutes tun wollten. „Das Projekt ist nach und nach gewachsen“, sagt Lourdes, „und wir auch.“
Produziert wurden die Kleidungsstücke in der Werkstatt von „change it“, einem Qualifizierungs-Betrieb der Stiftung Berufliche Bildung in Hamm. Hier nähen Ein-Euro-Jobber neue Stücke aus Altkleidern, die in einem Second-Hand-Laden des Deutschen Roten Kreuzes verkauft werden. Daher hat „change it“ auch ein umfangreiches Stofflager aus unterschiedlichen Kleiderkammern – eine wahre Fundgrube für Esther und Lourdes. Betriebsleiterin Erika Niehoff war von der Idee sofort überzeugt: „Ich war begeistert“, sagt die 58-Jährige, „dieses Projekt war eine echte Herausforderung für unsere Leute, und sie haben es mit sehr viel Liebe umgesetzt.“
Die ersten Maßklamotten für Obdachlose sind fertig und ab sofort auf Hamburgs Straßen unterwegs. Im November wollen Lourdes und Esther ihre vier Kunden wiedertreffen: Ob die Kleider den harten Alltagstest bestehen?
Text: Hanning Voigts
Fotos: Daniel Cramer