Renée Ernst ist Deutschland-Beauftragte für die UN-Millenniumskampagne. Sie glaubt trotz der Rückschläge, dass bis 2015 die Zahl der Hungertoten weltweit halbiert werden könnte. „Es fehlt nur der politische Wille“, sagt die 51-Jährige im Hinz&Kunzt-Interview.
(aus Hinz&Kunzt 212/Oktober 2010)
Hinz&Kunzt: Sind Sie von den Millenniumszielen heute noch überzeugt?
Renée Ernst: Ja, sehr sogar. Diese Millenniumsziele sind deshalb so großartig, weil die reichen und armen Nationen einen Pakt geschlossen haben, bei dem jeder Verantwortung tragen muss. Von den armen Nationen wird zu Recht verlangt, dass sie sich in einigen Punkten verbessern. Punkt eins: gute Regierungsführung, transparente Haushalte und effiziente Armuts- und Korruptionsbekämpfung. Punkt zwei: dass sie Schulen bauen und die Gehälter für die Lehrer zahlen. Unter diesen Bedingungen waren die reichen Nationen auch bereit, den Entwicklungsetat sukzessive aufzustocken auf 0,7 Prozent des Bruttosozialproduktes, die Entwicklungshilfe effizienter zu gestalten und die ärmsten Länder zu entschulden. Punkt drei: Die Welthandelsbedingungen so zu verändern, dass Entwicklungsländer eine Chance haben, sich aus der Armutsfalle zu befreien.
H&K: Wir hinken dem Zeitplan deutlich hinterher. Was läuft denn schief? Und was hat Deutschland falsch gemacht?
Ernst: Im Gegensatz zu Spanien und England, die von der Wirtschaftskrise genauso betroffen sind wie wir, zahlt Deutschland nicht wie versprochen derzeit 0,51 Prozent des Bruttosozialproduktes als Entwicklungshilfe, sondern nur 0,4 Prozent. Mindestens genauso schlimm: dass die reichen Länder nach wie vor mit subventionierten Lebensmitteln aus Europa die Kleinbauern vor Ort – immerhin 75 Prozent der Bevölkerung – in die Pleite treiben und somit auch mitverantwortlich sind für Hunger und Leid.
Die EU, und vorneweg Deutschland, subventioniert die großen landwirtschaftlichen Betriebe und die Nahrungsmittelindustrie hier. Die produzieren mehr als notwendig, und was sie übrig haben, wird künstlich verbilligt auf den Weltmarkt geworfen. Noch im vergangenen Jahr haben wir in Deutschland die Milch subventioniert: In Bangladesch und Kamerun mussten deshalb Familien, die vorher noch von ihren zwei, drei Kühen leben konnten, massenweise aufgeben, weil sie nicht mit dem von der EU künstlich verbilligten Milchpulver konkurrieren können. Das Gleiche gilt für Senegal, da finden Sie Tomatenmark aus Italien, und die lokalen Tomatenbauern werden ihre Tomaten nicht mehr los.
Die UN hat ausgerechnet, dass den Entwicklungsländern 700 Milliarden US-Dollar jährlich verloren gehen durch unfaire Welthandelsbedingungen, und weltweit beträgt die Entwicklungshilfe gerade mal 140 Milliarden US-Dollar. Das macht auch diese Absurdität so deutlich.
H&K: Was müsste sich ändern?
Ernst: Die Millenniumsziele sind nicht vom Entwicklungshilfeminister unterzeichnet worden, sondern vom damaligen Bundeskanzler, und unsere Bundeskanzlerin hat sich in ihrer Koalitionsvereinbarung wieder darauf berufen. Es ist eine Regierungsverantwortung, sich für sie einzusetzen, und alle Politikfelder müssen an einem Strang ziehen.
H&K: Wir haben 2010 – sind die Millenniumsziele eigentlich noch zu schaffen?
Ernst: Ja. Wir haben nämlich die Erfahrung gemacht, dass in fünf Jahren irre viel erreicht werden kann. Äthiopien hat innerhalb von drei Jahren mehr als 30.000 Basisgesundheitskräfte ausgebildet, die die Menschen in den Dörfern über Hygiene und Ansteckung von Krankheiten aufklären. Das hat sofort die Müttersterblichkeit und die Kindersterblichkeit gesenkt.
Oder Malawi: Seit ein paar Jahren hat das Land, das früher Nahrungsmittel importieren musste, zehn Prozent der Landeseinnahmen in die Landwirtschaft investiert. Gezielt wurden Gutscheine für Dünger und verbessertes Saatgut verteilt. Das hat zu einer enormen Ertragssteigerung geführt. Malawi war lange Getreide-Importland, jetzt kann es plötzlich seine eigene Bevölkerung ernähren und sogar noch ins Nachbarland Zimbabwe exportieren.
H&K: Wie kommt es, dass sich so plötzlich etwas tut?
Ernst: Das ist das Tolle an den Millenniumszielen. Man hat zum ersten Mal so etwas wie einen gemeinsamen Zeitrahmen und ein Diagnose-Instrument für soziale Gerechtigkeit. Die Regierungen zeigen, ob sie ihre Hausaufgaben gemacht haben. Und müssen jedes Jahr nachweisen: Wie viele Kinder sind denn jetzt in der Grundschule, wie viele Kinder sterben noch vor dem fünften Lebensjahr? Wie viele Mütter sterben? Das wird jedes Jahr überprüft. Und natürlich: Die Länder, die sich mehr engagieren, bekommen von den reichen Ländern auch mehr Unterstützung.
H&K: Was können wir normalen Bürger tun?
Ernst: Gehen Sie auf Ihre Abgeordneten zu und fordern Sie von ihnen, die Millenniumsziele zu unterstützen. Wir müssen immer wieder zeigen, wo unsere Politik Menschenleben kostet. Wenn die Abgeordneten merken, das ist ein Thema, mit dem sie Stimmen gewinnen können, dann ändert sich was. Es kann mir doch keiner erzählen, dass wir auf den Mars fliegen können und machen Schürfungen, ob da Wasser ist, dass wir aber nicht in der Lage sind, Menschen hier Zugang zu sauberem Trinkwasser zu verschaffen. Das ist doch kein Hexenwerk. Was fehlt, ist der politische Wille.
Dr. Renée Ernst ist seit fünf Jahren Deutschlandbeauftragte der UN-Millenniumskampagne. Vorher war sie als Entwicklungshelferin in vielen armen Ländern der Welt. Weil sie politisch noch mehr bewegen wollte, bewarb sie sich bei der UN-Millenniumskampagne.
Interview: Birgit Müller