Demonstrieren war nicht seine Sache, bis Stuttgart 21 kam und mit dem Bahnhofsneubau das Gefühl der politischen Entmündigung. Seither ist Walter Sittler eines der bekanntesten Gesichter des Protests in der Schwaben-Hauptstadt. Wir haben den Schauspieler getroffen.
(aus Hinz&Kunzt 215/Januar 2011)
Mit ausholendem Schritt eilt Walter Sittler durch die Halle des Hotels Reichshof. Schlank und elegant im klassischen Anzug, dekorativ ergraut und distinguiert – der Mann macht was her, und nicht nur die Frauen in der Halle drehen sich nach ihm um. Manche der Gäste erkennen den Schauspieler, der mit TV-Serien wie „Girlfriends“ oder „Nikola“ bekannt wurde. Doch seit rund einem Jahr macht Sittler auch politisch Furore: Der 58-Jährige ist das wohl bekannteste Gesicht des bürgerlichen Widerstands gegen Stuttgart 21. Der dort schon lange bestehende Kopfbahnhof soll in einem teuren Jahrhundertprojekt als Durchgangsbahnhof unter die Erde verlegt werden. So will es die Regierung, aber nicht die Mehrheit des Volkes: Das leistet mit Engagement, Kreativität und großer Präsenz Widerstand.
„Egal, welche sinnvollen Argumente man bringt, man wird ja nicht gehört“, regt sich Sittler auf. Deshalb hat er den Schwabenstreich erfunden. Auf den ist er stolz. Jeden Abend, erzählt er, machen Menschen – nicht nur in Stuttgart – eine Minute lang Krach, mit allem, was ihnen zur Verfügung steht. „Wir wollen gehört werden, denn nur, weil die Regierenden gewählt sind, haben sie die Wahrheit nicht mit Löffeln gefressen. Sie haben Entscheidungen zu treffen, aber der Souverän sind wir – immer noch.“
Lange hat er geglaubt, dass der in seinen Augen irrwitzige Plan von Stuttgart 21 nicht realisiert würde. Doch dann, nach 15 Jahren Planung, wurde es plötzlich ernst. Seine schiere Verzweiflung an der Unvernunft der Herrschenden trieb Walter Sittler schließlich auf die Straße. „Das Absurde ist doch, dass die Bevölkerung in Stuttgart die Regierung daran hindern will, Geld aus dem Fenster zu schmeißen“, sagt er und kann kaum still sitzen. „Das ist doch wahnsinnig, dass wir ihnen sagen müssen, dass sie ihre verfassungsmäßigen Pflichten einhalten sollen.“
Dabei ist Demonstrieren eigentlich nicht seine Sache. In den USA geboren, als Kosmopolit erzogen und künstlerisch tätig, sieht sich Sittler zwar als liberaler Freigeist, aber konkretes Engagement blieb die Ausnahme – bis Stuttgart 21 kam. Da passierte etwas direkt vor seiner Haustür, das sein Gerechtigkeitsempfinden kränkte. „Das Gefühl der Entmündigung ist in den letzten zwei, drei Jahren sehr stark gewachsen“, findet er. „Man möchte als erwachsener Bürger nicht so gern gesagt bekommen, man habe keine Ahnung und solle die Klappe halten.“ Mitzugestalten, gehört und respektiert zu werden, darum geht es ihm: „Wir sind am Ende eines Konsumförderbandes und sollen nur fressen. Aber wir haben keine Lust mehr dazu. Wir möchten das Förderband selber bestücken und auch mal abstellen, weil es nicht lebendig ist.“
Zum Thema Stuttgart 21 hat Walter Sittler sich über Monate ein solides Wissen angelesen. Über Brandschutz und Immobilienpreise, über die Auslastung des Güterverkehrs oder die fehlende Taktung der Pendlerzüge kann er sein Gegenüber schwindlig reden. Doch neben all den Sachfragen schimmern sein Ärger und sein Unverständnis darüber durch, dass „die Großen“ denken, sie könnten nach Gutsherrenart alles allein entscheiden. Das, so glaubt er, treibe auch andere seiner Mitstreiter um. „Nach 50 Jahren CDU-Regierung hat sich der Eindruck verfestigt, dass sie machen können, was sie wollen. Dass ihnen das Land gehört. Sie wiegen sich so in Sicherheit und demonstrieren Machtfülle mit einer abstoßenden Selbstverständlichkeit.“
Dass die Württemberger bisher nicht gegen ihre Regierung aufbegehrt haben, dafür gebe es gute Gründe, findet er: „Baden-Württemberg ging es wirtschaftlich gut. Das lag nicht an der Politik, sondern an den Menschen, die unaufwendig intensiv arbeiten und nicht viel Geld für Zeug ausgeben, sondern wenn, dann für solide Sachen. Wenn hier einer ein Haus baut, dann halten die Türgriffe auch 50 Jahre. Darauf gründet sich der Wohlstand.“ Aber für das, was sie einsetzten, erwarteten die Menschen auch einen Gegenwert: „Bei Stuttgart 21 wird viel Geld eingesetzt und der Gegenwert ist schlecht. Deshalb wollen viele das nicht.“
Die Regierung, hat er festgestellt, kann mit Widerspruch nicht umgehen. Besonders deutlich sei das am 30. September 2010 geworden, als überzogen hartes Eingreifen der Polizei bei einer friedlichen Demonstration über 100 Verletzte forderte. „An dem Tag sagte Innenminister Heribert Rech mit bibbernder Stimme, die Polizei sei mit Pflastersteinen angegriffen worden“, erzählt er. „Das waren die Kastanien, die die Wasserwerfer aus den Bäumen geschossen hatten, als sie die Demonstranten aus den Bäumen schießen wollten, was an sich schon eine Katastrophe ist.“ In den Bäumen saßen auch zwei von Sittlers drei erwachsenen Kindern, aber das sagt er erst später. Am nächsten Tag gab es eine Demonstration mit 100.000 Teilnehmern – und kreativem Widerstand: „Da gab’s schwäbische Pflastersteine, das sind zehn, zwölf Kastanien in einem Säckchen, die wurden verschenkt“, grient Sittler.
Der Widerstand verlaufe bisher durchweg friedlich, das ist dem Schauspieler wichtig. „Dass wir gewaltfrei sind, das macht die wahnsinnig. Es wäre doch so schön, wenn wir draufhauen würden. Nö, machen wir nicht“, sagt er und freut sich diebisch. „Die Menschen sind friedlich, weil der Protest über die gesamte Bevölkerung geht. Das sind nicht nur Studenten oder Leute, die keinen anderen Weg sehen, ihrem Frust Luft zu machen, als draufzuhauen. Auch die Autonomen haben bei uns keine Chance, die will keiner. Wenn einer von uns die Fassung verliert, weil er so frustriert ist, dann kommen immer Leute, um ihn zu beruhigen. Das macht unsere Stärke aus. Jetzt haut die Regierung drauf, die frustriert ist, weil die Leute ihnen nicht gehorchen.“
Für sein Engagement ist Sittler oft angegriffen worden, auch persönlich und ziemlich unter der Gürtellinie: „Da war schon lange kein Gürtel mehr in Sicht.“ CDU-Generalsekretär Thomas Strobl beleidigte ihn als „S-21-Propagandisten“ und stellte einen Zusammenhang mit der NS-Vergangenheit von Sittlers Vater her. Edward Sittler, amerikanischer Literaturprofessor, arbeitete während der NS-Zeit für das Auswärtige Amt und war Parteimitglied. Mit seiner Familiengeschichte ist Walter Sittler immer offen umgegangen, begab sich 2007 sogar für das ZDF auf öffentliche Spurensuche und legte die Rolle seines Vaters während des Dritten Reiches bloß. „Dieser Anwurf trifft mich nicht. Aber ich fand beschämend, dass keiner aus seiner Partei aufgestanden ist und gesagt hat: ,Das ist nicht unser Stil.‘ Da schäme ich mich fremd, obwohl ich die gar nicht wähle. Auch aus dem Bundestag war niemand da, der protestierte. Da hab ich gedacht: ,Ihr seid in der Beziehung ziemlich rückgratlose Leute.‘“ Aber er ist fair genug zu sagen, dass die Auseinandersetzung auf beiden Seiten gelegentlich unter die Gürtellinie gerät: „Ich finde es nicht in Ordnung, den Leuten verbal oder physisch auf den Kopf zu hauen. Im Streit kann das passieren, aber man sollte auf beiden Seiten auf ein besseres Niveau kommen.“
Den Widerstand durchzuhalten kostet Kraft. Auch wenn er hoch konzentriert und amüsant erzählt, ist die Anspannung des ganzen Körpers zu spüren. Seine 1,90 Meter hält er nicht so gerade wie gewohnt, die Augen sind müde. Ja, die Kraft, sagt er. Die schöpfe er immer wieder aus seiner Arbeit, vor allem aus dem Erich-Kästner-Programm, mit dem er zurzeit wieder durch Deutschland tourt. „Das Kleinmaleins des Seins“ ist Fortsetzung des erfolgreichen Programms „Als ich ein kleiner Junge war“, mit dem Sittler mehr als 170 Mal auf der Bühne stand. „Bei Kästner erfährt man: Man ist im Leben allein, aber man kann es aushalten – mit Humor, wenn man sich selbst nicht so wichtig nimmt“, sagt er. „Hierarchien interessieren ihn nicht, er war fast immer dagegen. Egal, ob jemand Droschkenfahrer oder Präsident ist, es kommt darauf an, dass er das, was er macht, gut macht. Das ist auch für mich ganz richtig so.“ Kästner mache ihm Mut, gibt er zu. „Natürlich geht die Welt nicht unter, wenn Stuttgart 21 gebaut wird. Aber es macht so gar keinen Sinn.“
Einen Kompromiss, findet er, könne es im Konflikt nicht geben, das sei ja das Dilemma. Die Schlichtungsverhandlungen hat er auch deshalb mit einiger Skepsis gesehen. „Wenn man eine Schlichtung will, dann muss man den Gegner verstehen wollen“, findet er. „Ich habe nicht den Eindruck, dass der Wille da ist, den anderen zu verstehen. Die nennen uns Fortschrittsverweigerer. Dabei wollen wir nur einen besseren Bahnhof, als sie ihn geplant haben.“
Den Schlichterspruch, mit dem Schlichter Heiner Geißler den Bau mit Auflagen befürwortet, hätte er sich anders gewünscht. „Eigentlich müsste man das ganze Projekt neu planen“, sagt er. Würden Geißlers Vorschläge angenommen, hätte dies einen enormen Kostenanstieg zur Folge, was niemand wolle. Der Gegenvorschlag für einen Ausbau und eine Sanierung des bestehenden Kopfbahnhofes sei billiger und leichter, werde aber nicht ernst genommen. „Auch wenn nun nachgebessert wird: Eine falsche Entscheidung bleibt falsch.“ Aufgeben kommt für Walter Sittler nicht infrage. „Wir werden weiter demonstrieren“, sagt er kämpferisch und setzt seine Hoffnung auf die nächste Landtagswahl im März: „Die können uns nicht hindern, dass wir wählen, was wir wollen.“
Text: Misha Leuschen
Foto: Cornelius M. Braun