Sie gehen einander unter die Haut. Hinz&Künztlerin Steffi Neils schreibt seit Jahrzehnten Gedichte über ihr Leben auf der Straße. Einige der Texte hat die Schauspielerin Mechthild Großmann jetzt für eine CD gesprochen. Die schnörkellosen Verse der einen, gefühlvoll interpretiert von der anderen, sind mindestens ebenso berührend wie die Geschichten der beiden.
(aus Hinz&Kunzt 214/Dezember 2010)
Fotos: Cornelius M. Braun
„Das Theater diszipliniert dich ein Leben lang“
Ein Gespräch mit der Schauspielerin Mechthild Großmann über Heilige Messen, freche Eichhörnchen und warum sie keinen Computer hat.
Text: Frank Keil
Mechthild Großmann greift neben sich, nimmt einen Stapel weißer Bögen. Blättert darin, vor und zurück. Es sind die Manuskriptseiten mit Gedichten von Steffi Neils, Hinz&Kunzt-Verkäuferin. Mechthild Großmann wird eine Auswahl davon in ein paar Tagen für die CD „Tag und Nacht“ einsprechen. Nicht nur, weil sie sich Hinz&Kunzt verbunden fühlt. Sie ist zugleich eine der renommiertesten Sprecherinnen für Hörspiele und Hör-CDs, wird gerne für Lesungen gebucht.
Sie hat die Stelle gefunden, die sie gesucht hat, sie holt einmal tief Luft: „Kann etwas noch gefrorener sein als Eis?/ Ja, mein Herz./Wenn du mich berührst.“, spricht sie. Pause. Dann sagt sie: „Das ist so gut, das haut mich um.“ Und sie fügt hinzu: „Das ist ganz einfach ausgedrückt, ohne Schnörkel, ohne jedes falsche Sentiment.“
Vielen wird Mechthild Großmann als Schauspielerin vertraut sein, im Theater, aber vielleicht noch mehr im Fernsehen, wo sie regelmäßig in der Rolle der Staatsanwältin Wilhelmine Klemm in den „Tatort“-Folgen mit Axel Prahl als Kommissar und Jan-Josef Liefers als opernliebender Pathologe auftritt. Stets gut gekleidet steht sie dann gern des Nachts in hochhackigen Schuhen am Fundort einer Leiche, fordert schnelle Ergebnisse und zieht an der Zigarette.
Diese „Tatort“-Folgen spielen in Münster, und in Münster wurde Mechthild Großmann geboren. „Aber deswegen haben die mich nicht genommen“, sagt sie schnell und wedelt den Zigarettenrauch weg. Aber es sei sehr nett, in Münster zu drehen, hin und wieder in der Stadt zu sein. „Es ist wirklich eine schöne Stadt, vielleicht ein bisschen puppenhäusig. Und das – man möge es mir verzeihen – das verkrustet Enge, Katholische der Stadt wird durch die vielen Studenten aufgehoben.“ Die Familie zieht nach Bremen, da ist sie noch ein Kind, neun Jahre alt, kurz nach der Erstkommunion.
Dass sie Schauspielerin werden will, ist ihr früh klar. Aber warum eigentlich? „Ich wäre ohne die Kirche nie zum Theater gekommen. Sonst wüsste ich keinen Grund. Es gab bei uns in der Familie niemanden, der vom Theater kommt.“ Sie überlegt kurz: „Ich kenne es ja noch, dass die Heilige Messe auf Latein gehalten wurde, und ich verstand da natürlich kein Wort, ich hab einfach den Mund mitbewegt.“ Und außerdem drehten die Priester damals den Gläubigen den Rücken zu. „Ich hab mich als Kind immer gefragt: Was machen die da? Dann kam der Messdiener, dann klingelte es – ich fand das äußerst geheimnisvoll, das hatte etwas sehr Bühnenhaftes.“ Und diese Faszination gilt noch heute. „Wenn im Dom ein schönes Hochamt gelesen wird, wenn dazu die Chöre singen, ist das für mich sehr aufregend. Und es sind die besten Schauspieler, die es gibt, denn sie glauben ja an das, was sie tun.“
Sie ist noch nicht mit der Schule fertig, da steht die erste Schauspielprüfung an: in Hamburg, in der Jury sitzt unter anderem Ida Ehre. „Meine Großmutter, die sehr fromm war, hat damals extra für mich eine Messe lesen lassen, bei den Schwestern der Göttlichen Vorsehung“, erzählt sie. „Damit ich durch die Prüfung falle!“ Und sie fällt in ihr raues, kehliges Lachen – denn sie ist durch die Prüfung gerauscht.
„Für meine Großmutter war der Wunsch, ans Theater zu gehen, so was von abwegig – also, da hätte ich gleich auf den Strich gehen können!“, setzt sie noch hinzu. Aber schon ein Jahr später klappt es, und sie geht nach Hamburg. Besucht auch all die Orte, die in Steffi Neils’ Gedichten von der Sehnsucht nach einem ganz anderen Leben jenseits kleinbürgerlicher Idylle eine Rolle spielen: die Reeperbahn des Nachts; das „Top Ten“, das „Grünspan“, wo die Drogen kreisen, mancher bald ins Bodenlose fällt – so wie Steffi Neils, von der sie altersmäßig nur wenige Jahre trennen. „Mein Vorteil war, ich kam aus der Großstadt“, erzählt sie. „Zwar aus Bremen, aber eben nicht vom Land. Mein Vater hatte eine Kneipe, mir war das Milieu nicht fremd. Okay – es war ein bisschen schizophren: Zu Hause musste ich hohe Literatur lesen, und Sonntag habe ich gekellnert, mit 15. Aber ich wusste, was passiert, wenn eine Frau mit einem Mann vor die Tür geht und sich 30 Mark verdient. Wenn man so was gesehen hat, vielleicht ist das auch eine Art Schutz.“ Auch vor den Drogen. „Natürlich haben wir damals das eine und andere probiert, und manche haben Sachen eingeworfen, da wusste man nicht, was es war – aber da war ich ein Feigling. Glücklicherweise.“
Und außerdem will sie ja Schauspielerin werden. „Ich wollte das unbedingt, und da kannst du nicht jeden Morgen verkatert zur Schauspielschule kommen. Da musst du dir abends den Text einbimsen, du musst lernen und nochmals lernen. Für das Theater, da musst du morgens einfach fit sein, das diszipliniert; das diszipliniert ein Leben lang.“
Sie springt kurz auf, klatscht leicht in die Hände. Ein Eichhörnchen, das eben in der Terrassentür stand, huscht davon. „Freche Dinger“, sagt sie, „die wühlen mir vorne im Garten alles kaputt.“ Nur süß seien die schon. „Manchmal setzen die sich da hin und warten, bis ich ihnen Nüsse bringe.“ Aber heute gibt es keine Nüsse. Heute will Mechthild Großmann noch ein wenig in den Gedichten lesen; will überlegen, was noch an Zwischentexten eingefügt werden kann, aber das meiste steht.
Sie kann sich auch gut aufregen. Über die aktuelle Kulturpolitik und was am Schauspielhaus gespart werden soll. Über die Schulreform. Die sie eine Frechheit fand. Ein heimlicher Versuch, auf Kosten der Schüler zu sparen. Und von wegen die Reformgegner seien elitär! Und sie kneift die Augen zusammen und sagt kämpferisch: „Ich hätte eine ganz einfache Schulreform vorzuschlagen: doppelt so viele Lehrer!“ Und dann lacht sie sich wieder scheckig, weil sie natürlich weiß, wie die Schulsenatorin da nach Luft schnappen würde.
Ihre Leidenschaft für das Thema Schule ist nicht zufällig, hat sie doch eine Tochter und konnte deren Weg durch die Schulwelt begleiten. Doch nun ist die Tochter damit durch, studiert seit Kurzem in Süddeutschland. Und Mechthild Großmann spricht mit leicht gespielter Traurigkeit: „Geht die einfach weg und lässt mich hier alleine zurück!“ Setzt sich sofort wieder aufrecht hin. „Quatsch! Das muss so sein!“
Allerdings verschwand mit der Tochter auch der Computer aus ihrem Leben. Das Internet. Die Möglichkeit, per E-Mail sich alles zuschicken zu lassen. Müssen die Fernsehredaktionen das Drehbuch eben auf die Post geben. Geht doch auch! „Angeblich soll das ja Zeit sparen. Aber ich kenne nur Leute, die stundenlang vorm Computer sitzen. Stunden!“ Sie braucht die Zeit, um ihren Garten zu machen.
Neulich hat sie allerdings mit ihrer Tochter geskypt, also per Internet telefoniert, das hat ihr gefallen. Vielleicht lernt sie das ja doch noch mal. Aber nicht jetzt! Und sie blättert wieder den Stapel mit Steffis Gedichten durch und sagt nachdenklich: „Wie hat sich wohl Steffi bei allem, was sie in ihrem Leben durchgemacht hat, diese Liebe für die Sprache, für das Dichten bewahren können?“
„Das Schreiben ist mein Ventil“
Hinz&Künztlerin Steffi Neils war 30 Jahre lang heroin- und alkoholabhängig, finanzierte sich die Sucht durch Prostitution. Ihre Erinnerungen und Gefühle verarbeitet sie in Gedichten.
Text: Maren Albertsen
Ton ab! Normalerweise kein Problem für Steffi Neils. Zumindest dann, wenn sie mit ihren Kunden redet. Beim Zeitungsverkauf hat die Hinz&Künztlerin keine Scheu: „Mund auf, locker vom Hocker, was ist schon dabei?“ Der Termin im Aufnahmestudio hätte also ein Klacks sein müssen. Eigentlich. Aber dann, plötzlich mit Mikro vor der Nase, verschlug es Steffi die Sprache. „Allein meinen Namen zu sagen“, stöhnt sie, „das hat ewig gedauert! Aber zum Glück hat Mechthild Großmann mir ganz toll geholfen.“
Gemeinsam haben die beiden Frauen eine Auswahl von Steffis Texten auf CD eingesprochen. Aber für Steffi war es viel mehr als ein Arbeitstreffen. „Mechthild ist eine wunderbare Frau, einfach umwerfend“, schwärmt sie. „Sie gibt meinen Gedichten Leben und Farbe, ihre Stimme geht wirklich unter die Haut.“
Unter die Haut gehen auch Steffis Verse: berührende, wütende, ungeschönte Zeilen über ihre Zeit auf der Straße, Heroinsucht und Prostitution.
Steffi wird während des Zweiten Weltkriegs in Danzig geboren. Am 17. Juni 1953 fliehen die Eltern mit ihr aus der DDR in den Westen, nach Mannheim. Dort entdeckt Steffi bei einer Schulfreundin ein Buch über Auschwitz mit Fotos von Leichenbergen – und ist schockiert. „In der Schule hatten wir nur das Tagebuch der Anne Frank gelesen. Mehr über die NS-Zeit wussten wir nicht.“ Für Steffi bricht eine Welt zusammen, sie macht ihren Eltern Vorwürfe („Ihr müsst doch was mitbekommen haben!“) und wird tief religiös.
Nach der Mittleren Reife will sie ihrem Vorbild Albert Schweitzer nacheifern und als Krankenschwester in einem seiner Lepra-Hospitäler in Afrika arbeiten. Als Vorbereitung zieht sie nach Hamburg, missioniert singend für die Heilsarmee und arbeitet später im Elim-Krankenhaus. Ihr Freund, Typ „cooler Marlon-Brando-Verschnitt“, nimmt sie Anfang der 60er mit in die Palette – die Kneipe für Aussteiger, Künstler und Beatniks. Hier findet Steffi ein neues Zuhause, glaubt: „Jetzt fängt mein Leben erst richtig an!“
In der Palette fragt sie einfach mal nach: „Hast du mal ’ne Mark für die Straßenbahn nach Paris?“ Mit der fährt sie dann bis zur Veddel, von da aus trampt sie und schlägt sich auf diese Weise tatsächlich bis in die französische Hauptstadt durch. Hier lernt sie den späteren Revoluzzer Daniel Cohn-Bendit kennen – „damals noch ein einfacher Student, rotblondgelockt und pausbäckig“ – nimmt erst Haschisch, dann härtere Drogen, wird schließlich heroinsüchtig. Um schnell an Geld zu kommen, arbeitet sie auf dem Kiez als Prostituierte und Stripteasetänzerin, sie trinkt viel, wird schließlich alkoholabhängig: „Mir war’s recht, kam ich nicht an die eine Droge, nahm ich die andere.“
Mehrere Therapien und Entgiftungen bleiben erfolglos, bei einem Fluchtversuch während eines Kaltentzugs bricht sie sich zwei Lendenwirbel, sitzt lange im Rollstuhl. Tanzen kann sie nie wieder, das Geld für ihre Sucht verdient sie fortan auf dem Autostrich in St. Georg. Damit die Freier nichts merken, spritzt sie sich das Heroin in die Füße. „Das war die Hölle, die schlimmste Station in meinem Leben.“
Erst im Juni 1998 schafft sie den Ausstieg, ist seitdem clean – und feiert jetzt jeden Juni ihren neuen Geburtstag, ihre „Wiedergeburt“. 2002 fängt sie bei Hinz&Kunzt an, zeigt hier auch zum ersten Mal die Texte über ihr bewegtes und bewegendes Leben, Stoff genug für gleich mehrere Bücher. „Aber ein Buch will ich nicht schreiben“, sagt Steffi. „Es gibt zu viele Kammern mit schrecklichen Erinnerungen in mir, die ich nie wieder öffnen möchte.“
Stattdessen entsteht bei Hinz&Kunzt die Idee zur CD. „Sonst schreibe ich ja nur für mich, als eine Art Ventil“, erzählt Steffi. Mittlerweile verschenkt sie einige Gedichte als Dankeschön aber auch an Kunden. Denn ihr Stammplatz am Großen Burstah ist ihre neue Heimat geworden, endlich hat sie das Gefühl, Wurzeln zu schlagen. „Die Straße mit ihren Menschen hier ist wie eine Tankstelle“, sagt Steffi lächelnd. „Eine Tankstelle für meine Seele.“
Die Hör-CD „Tag und Nacht“ mit zehn Gedichten von Steffi Neils, gelesen von Mechthild Großmann, kostet 8 Euro (plus Versand) und
ist erhältlich im Hinz&Kunzt-Shop oder Telefon 32 10 83 11. Der Erlös geht zur einen Hälfte an Steffi Neils, zur anderen an Hinz&Kunzt.
Wir danken herzlich Mechthild Großmann, die uns ihre Stimme und Erfahrung geschenkt hat. Danke an die DNS Factory für die großzügige Unterstützung. Danke an Bash Media für Grafik und Satz.
Vielen Dank an alle Beteiligten, die Steffi und uns bei diesem Projekt unterstützt haben. Wir haben lange davon geträumt.