„Man fühlt sich eklig, ausgenutzt, schmutzig“

Obdachlosigkeit bei Frauen ist oft unsichtbar. Die Betroffenen kommen bei Freunden und Bekannten unter – oder im Bett irgendeines Mannes. Geschichten von Frauen ohne Wohnung sind Geschichten von Ausbeutung, Scham und Einsamkeit.

(aus Hinz&Kunzt 212/Oktober 2010)

212_verdeckt_illuNachts hämmert er an ihre Tür. „Kaja, dreh mir Zigaretten!“ Tagsüber brüllt er immer wieder aus dem Nebenzimmer: „Kaja, mach mir Kaffee!“ Der Mann kann von Kaja* verlangen, was er will. Denn die 34-Jährige ist von ihm abhängig, weil sie ohne ihn keinen Platz zum Schlafen hat. Seit vier Jahren lebt die Polin bei einem Hartz-IV-Empfänger, der im Rollstuhl sitzt. Sie zahlt ihm fünf Euro Miete am Tag, ohne Untermietvertrag, ohne jede Sicherheit. Wenn sie das Geld nicht aufbringen kann, muss sie kochen, putzen und einkaufen.
Wenn Wohnungslose nur unter solchen Bedingungen ein Dach über dem Kopf finden, spricht man von „verdeckter Obdachlosigkeit“. Die Betroffenen – vor allem Frauen – müssen zwar nicht auf der Straße schlafen, leben aber in Abhängigkeit und ständiger Unsicherheit. Kaja leidet vor allem darunter, dass sie keine Tür hinter sich zuziehen kann, den Launen ihres Vermieters ausgeliefert ist. „Immer will er was. Immer ist Stress“, sagt sie mit Tränen in den Augen. „Ich finde da keine Ruhe.“ Trotzdem sieht sie keine Alternative: Ohne Geld, ohne Aufenthaltsstatus hat Kaja kaum Chancen auf eine Wohnung. Eine Zeit lang hat sie sogar auf der Straße geschlafen, weil sie es nicht aushielt. „Aber das schaffe ich nicht“, sagt sie. „Ich muss doch irgendwo duschen und meine Sachen lassen.“ Nach einigen Nächten unter der Brücke ist sie daher wieder zu dem Mann im Rollstuhl gezogen. Wo hätte sie sonst hingehen sollen?
Panja hat noch nie draußen geschlafen. Und das, obwohl die 40-Jährige seit zehn Jahren keine eigene Wohnung mehr hat. Seit sie nach Hamburg kam, seit sie vor ihrem alten Leben buchstäblich davonlief: Vor ihrem ersten Mann, der sie jahrelang schlug und über den sie mit 19 Jahren an Drogen geriet. Vor ihrem zweiten Mann, der sie betrog und alles Geld verspielte. Und vor ihren nagenden Schuldgefühlen, weil ihr Leben nicht anders verlaufen war und sie ihre zwei Töchter zurückließ.
Jahrelang nahm Panja Heroin. Um die Drogen zu bezahlen, verkaufte sie sich an fremde Männer. Die ganze Zeit war sie wohnungslos, auch wenn sie immer irgendein Dach über dem Kopf hatte: Sie schlief bei Freundinnen oder bei ihren Freiern, aber auch bei Männern, die sie schon länger kannte und die vorgaben, ihre Freunde zu sein. „Schwarze Freunde“ nennt Panja sie. „Die tun nett, wenn sie merken, dass du keinen Schlafplatz hast. Und du bist auf sie angewiesen und lässt alles mit dir machen.“ Es ist schwer zu ertragen, wenn man für ein Bett alles tun muss, was jemand verlangt. „Man fühlt sich eklig, man fühlt sich ausgenutzt, dreckig, schmutzig.“
Sabine Kordt, Leiterin der Frauen-Übernachtungsstelle FrauenZimmer, kennt das Phänomen der verdeckten Obdachlosigkeit seit Jahren. „Viele der Frauen tun fast alles, um die Fassade eines normalen Lebens auch vor sich selbst zu wahren“, sagt sie. „Sie haben Angst, als Obdachlose ausgegrenzt zu werden.“ Da die meisten Frauen noch ein gewisses soziales Netzwerk haben, wenn sie ihre Wohnung verlieren, ziehen sie zu Freunden, Bekannten oder Verwandten. Oft gehen sie Beziehungen zu Männern ein, nur um eine Wohnung zu haben. Dann verschwimmt die Grenze zwischen Beziehung und Prostitution. Viele der Frauen hätten außerdem ein schwaches Selbstbewusstsein, suchten die Schuld für ihre Lage nur bei sich, so Kordt. Aus Scham nähmen sie keine Hilfe an. „Zu uns kommen sie erst, wenn Gewalt und sexuelle Ausbeutung schon Spuren hinterlassen haben. Wenn es eigentlich schon zu spät ist.“
Kaja hofft im Moment auf Hilfe von außen. Sie will versuchen, ab Oktober im Hamburger Winternotprogramm für Obdachlose einen Schlafplatz zu finden. Alles wäre besser als ihre derzeitige Lage. „Vielleicht habe ich da wenigstens meine Ruhe“, sagt sie. Panja dagegen denkt, dass sie gerade auf einem guten Weg ist. Nach einer Haftstrafe hat sie es geschafft, vom Heroin loszukommen. „Ich wusste irgendwann: Ich will das nicht mehr“, sagt sie. Vor allem kann sie heute über ihre Probleme sprechen, zu sich und ihrer Geschichte stehen. „Aber ich habe lange gebraucht, um das zu lernen.“ Jetzt macht sie eine Therapie, um ihre Sucht und die Vergangenheit seelisch aufzuarbeiten. Nie wieder will sie auf der Straße stehen und für einen Schlafplatz von einem Mann abhängig sein. Denn das ist es, was das Leben ohne Wohnung so unerträglich macht, sagt sie. „Das Schlimmste ist, nicht zu wissen, wo man schlafen soll. Wenn man ganz alleine ist.“ *Name geändert

Text: Hanning Voigts
Illustration: Tina Berning

„Verdeckte Obdachlosigkeit“ bezeichnet ein extrem unsicheres Wohnverhältnis. Die Zahl der Betroffenen – es sind vor allem Frauen – ist nicht bekannt. Verlässlich erfasst ist nur, wie viele Frauen in Hamburg wirklich auf der Straße schlafen: Von den 1029 Menschen, die 2009 auf der Straße gezählt wurden,
waren 22 Prozent Frauen.

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