Deutschlandreise: Hinz&Künztler Torsten Meiners wanderte vier Monate lang rund 2800 Kilometer durch zwölf Bundesländer, um an Schulen aus dem Buch „Ein mittelschönes Leben“ vorzulesen. Eine Tour zwischen Wald- und Wiesenabenteuern und rührenden Begegnungen mit Kindern und anderen lieben Leuten.
(aus Hinz&Kunzt 211/September 2010)
Plötzlich ein lautes Grunzen. Erschrocken fährt Torsten Meiners von seinem Schlafplatz an einem Wanderweg zwischen Koblenz und Gießen hoch. Tatsächlich, um ihn herum tummeln sich Wildschweine: eine Bache mit ihren Frischlingen. „Da kriegt man Muffensausen“, gesteht Torsten. Schließlich verscheucht der Hinz&Künztler das Rudel mit Radiomusik. Ein paarmal schnauben sie noch wütend, dann verziehen sich die Tiere ins Dickicht. „Das intensivste Naturerlebnis während meiner Tour“, sagt Torsten, „und das gefährlichste.“
Knapp vier Monate, von März bis Ende Juni, reiste der 46-Jährige durch Deutschland. Zu Fuß. „Weil Laufen die urtümlichste Art der Fortbewegung ist“, erklärt er, „ein mentales Erholungsprogramm, ein Kurzurlaub für die Seele.“
Aber es ging Torsten nicht nur ums Laufen: Unterwegs las er mehr als 50-mal an Schulen die Geschichte „Ein mittelschönes Leben“ vor. Die Kinderbuchautorin Kirsten Boie beschreibt darin, wie schnell „normale“ Menschen durch ein Unglück suchtkrank und obdachlos werden können. Torsten ist sicher: „Die Geschichte vorzulesen hilft, dass bei Kindern Vorurteile gegen Obdachlose gar nicht erst entstehen.“
Rund 2800 Kilometer hat Torsten bewältigt, mit vier Millionen Schritten, hat er ausgerechnet. Ohne Wanderkarte – „Ich habe mich an den Himmelsrichtungen orientiert.“ – und ohne Geld für Unterkünfte. Dafür mit einem Handwagen, 1,10 Meter lang, 80 Zentimeter breit. Darin: zwei Styropor-Matratzen, zwei Schlafsäcke, acht Paar Schuhe – „Die muss man oft wechseln, um keine Blasen zu bekommen.“ –, Kleidung, Lebensmittel, Grillkohle, das Radio, Kleinkram. Und Eierverpackungen: „Ideal zum Kohleanzünden.“
Da spricht der Wanderprofi: 2008 legte Torsten beim „Lauf gegen die Kälte“ und bei einer Tour für die Organisa-tion Viva con Agua jeweils rund 1000 Kilometer zurück.
Nun ging es unter anderem nach Büdelsdorf in Schleswig-Holstein, tief in den Thüringer Wald, ins trubelige Berlin und zurück nach Hamburg. In jedem neuen Ort besuchte Torsten Grundschulen und stellte sich mit dem Buch dort vor. Manche sagten ihm ab, baten ihn, an einem anderen Tag wiederzukommen, aber „manchmal konnte ich noch am gleichen Tag lesen“, erzählt Torsten. So ohne Vorbereitung eine unerwartete Herausforderung für die Kinder: „Manche waren anschließend sehr traurig.“ Einige Schüler kannten die Situation von Armut und alkoholkranken Eltern von zu Hause. „Die haben sich richtig mit der Geschichte identifiziert.“
Um die Stimmung aufzuheitern, fragte Torsten dann, was ein Obdachloser tun könne, um sein Leben zu verbessern. „Ich würde auf der Straße Musik spielen“, antwortete ein Junge. „Das macht mir selber Spaß und auch den Zuhörern.“
Immer wieder verblüfften die Kinder Torsten mit ihrer Neugierde und ihrem Verständnis: „Sie begriffen sehr schnell, dass jeder Mensch wohnungslos werden kann – und dass es trotzdem auch wieder bergauf geht. Nämlich dann, wenn man Hilfe bekommt und diese auch annimmt.“
Auch Torstens eigenes Schicksal, seine Spielsucht und dass er in Hamburg seit fünf Jahren auf der Straße lebt, rührte die Kinder. „Du kannst doch bei uns schlafen“, hörte Torsten oft. „Wenn ich ihnen dann sagte, dass ich nach der Lesung weiterwandern muss, waren sie richtig enttäuscht.“ Immer wieder schenkten Schüler und Lehrer ihm Lebensmittel, luden ihn spontan zum gemeinsamen Frühstück oder Mittagessen ein, malten Bilder für ihn oder schrieben Dankeskarten. „Manche Kinder wollten nach den Lesungen sogar ein Autogramm von mir.“ Torsten lacht.
Schwieriger war die Unterkunftssuche. Die meisten Menschen reagierten ablehnend. „Dabei habe ich von Anfang an nur nach einem Platz im Schuppen oder Garten gefragt. Dass man Fremde ungern ins Haus lässt, verstehe ich.“ Eine ältere Dame in der Nähe von Dortmund war die Ausnahme: „Sie ist selbst Pilgerin und lässt andere Reisende umsonst bei sich schlafen.“ Zum Dank bastelte Torsten eine Sitzleiter für die Puppensammlung der Frau. „Wir haben dann bis weit in die Nacht über alles Mögliche gequatscht.“
Im Schnitt schaffte Torsten 27 Kilometer am Tag. Einmal waren es 60 – mit Hilfsmitteln. In einem verlassenen Haus fand er Inlineskates. „Mit denen konnte ich eine längere Strecke bergab rollen.“ Rund 300 Kilometer legte er auf diese Weise zurück. „Die muss man natürlich von den vier Millionen Schritten abziehen.“ Anstrengend wurde es bei Dauerregen: „Da stand ich schon mal einen ganzen Tag im Schutz einer Bushaltestelle.“ An anderen Tagen sah Torsten die ersten Blätter an den Bäumen und die Rapsfelder blühen: „So intensiv habe ich den Wechsel der Jahreszeiten nie erlebt.“
Wenn er nicht gerade wanderte oder an Schulen las, stellte er sich auf Marktplätze und warb dort fürs bedingungslose Grundeinkommen – eine monatlich vom Staat gezahlte Summe für jeden Bürger, ohne dass dieser eine Gegenleistung
dafür erbringen muss. Für Torsten die beste Alternative zu „beschämenden Abhängigkeitsverhältnissen“ wie Hartz IV. Aber unterwegs merkte er schnell, „dass das Thema den meisten Menschen nicht auf den Nägeln brennt“.
Immerhin erreichte er mit seinen Überlegungen einen prominenten Politiker: Bei einer Wahlkampfveranstaltung der SPD in Recklinghausen kam Sigmar Gabriel auf Torsten zu und diskutierte mit ihm übers Grundeinkommen. Gabriel sprach das Thema anschließend sogar in seiner Rede an. „Obwohl er eigentlich dagegen ist, weil er nicht möchte, dass auch Reiche ein Grundeinkommen erhalten.“ Reich geworden ist Torsten unterwegs auch. „Zwar nicht an Geld, dafür an Erfahrung.“
Text: Maren Albertsen
Foto: Mauricio Bustamante
„Ein mittelschönes Leben“: Das Kinderbuch und das Hörbuch über Obdachlosigkeit von Kirsten Boie und Jutta Bauer sind erhältlich über www.hinzundkunzt.de und im Buchhandel. Am Mittwoch, den 20. Oktober um 11 Uhr lesen Boie und Bauer aus ihrem Buch, die Hinz&Künztler Torsten und Dirk beantworten Fragen. Plattform Bühne im Ernst Deutsch Theater, geeignet für ältere Grundschul-kinder, Eintritt voraussichtlich ca. 5 Euro. Anmeldung und Infos:friederike.steiffert@hinzundkunzt.de oder Telefon 32 10 83 11.