Die Rautenberg-Gesellschaft bringt psychisch erkrankte Obdachlose in eigenen vier Wänden unter. Ohne Vorbedingungen. Beim Weg zurück ins geregelte Leben hilft ihnen auch ein Mitarbeiter, der selbst mal obdachlos war.
Bevor Isgard Klein in diesem Sommer beim Projekt „Housing First“ der Rautenberg-Gesellschaft als Sozialarbeiterin anheuerte, jobbte sie in einer Notunterkunft des städtischen Winternotprogramms. Jeden Morgen musste sie mitansehen, wie man Hunderte Obdachlose raus auf die Straße schickte. Eine der Obdachlosen war Denise*. „Für mich ist es etwas Besonderes und richtig schön, dass ich ihr jetzt helfen kann“, sagt Klein, die an diesem Augusttag Denise in deren Wohnung besucht.
Denise stellt gleich zu Beginn klar: Nur eine Nacht habe sie im Freien geschlafen. Sonst immer im Winternotprogramm oder bei Bekannten auf dem Sofa. „Ich hätte das gar nicht gekonnt, weil ich vor Angst kein Auge zubekommen hätte“, sagt die 31-Jährige. Die kräftige Frau hat es sich auf ihrem Sofa bequem gemacht. Sie wirkt nicht wie eine, die sich schnell einschüchtern lässt. Aber mit ihrer Angst vor der Straße ist Denise nicht allein. Jede Fünfte ohne Dach über dem Kopf ist laut einer Zählung der Stadt weiblich. Viele obdachlose Frauen betreiben Couchsurfing: Sie lassen sich so wie Denise auf Bekanntschaften ein, um den unkalkulierbaren Gefahren der Straße zu entkommen. Denise lebte zuletzt mit einem obdachlosen Mann in einem Kleingarten – ohne Genehmigung des Vereins.
„Ich dachte, Obdachlose sind faul.“
Housing-First-Bewohnerin Denise
Ihre Wäsche wusch sie in einer Tagesaufenthaltsstätte der Diakonie in Eimsbüttel. Dort erzählte ihr eine Sozialarbeiterin erstmals vom Housing-First-Ansatz. Der sieht vor, dass Obdachlose nicht wie bisher in Hamburg üblich in einem Stufensystem erst ihre Wohnfähigkeit unter Beweis stellen müssen, sondern dass die Wohnung den entscheidenden Schritt raus aus der Obdachlosigkeit bedeutet. In Europa gilt Finnland als Housing-First-Vorreiter. In den vergangenen 30 Jahren konnte dort so die Obdachlosigkeit nahezu beseitigt werden.
In Hamburg finanziert die Stadt inzwischen ein erstes Housing-First-Projekt mit bis zu 30 Plätzen. Sechs weitere psychisch erkrankte ehemalige Obdachlose begleitet zudem die Rautenberg-Gesellschaft auf dem Weg in eine eigene Wohnung. Finanziert durch Gelder der Deutschen Fernsehlotterie, befristet auf drei Jahre. Bewohnerin Nummer sieben ist Denise, die anfangs die Gespräche mit der Sozialarbeiterin „überhaupt nicht richtig ernst genommen“ hatte. „Ich wollte meine Probleme immer selbst lösen“, sagt die junge Frau. „Deswegen habe ich mich fast täglich um Wohnungen beworben.“ Dass sie allerdings nur Absagen kassierte, habe sie richtig runtergezogen.
Einer, der Denise verstehen kann, ist Peer-Berater Christoph*. Der 43-Jährige ist fester Mitarbeiter im Housing-First-Projekt. „Peer“ ist Englisch und meint im Deutschen „ebenbürtig“. In Christophs Fall bedeutet es, dass er das, was Denise schaffen will, bereits erreicht hat: den Weg raus aus der Obdachlosigkeit. Während seine Kollegin Isgard Klein vor allem bei Rechtsfragen und Papierkram hilft, sei er der Seelenberater für die Bewohnenden des Projekts, sagt Christoph: „Ich bin der, der die Tür aufmacht.“
Dabei war er früher eher der Typ, der anderen diese vor der Nase zuschlug. „Immer wenn’s knifflig wurde, war ich weg“, sagt der heutige Peer mit Blick auf seine Vergangenheit. Er habe Jobs und die Wohnung verloren. Sich über Jahre vor jedweder Herausforderung gedrückt und stattdessen sein Geld in Spielhallen verzockt. „Der Automat lässt dich deine Probleme vergessen, aber schafft so viele mehr“, sagt Christoph. Er habe einen riesigen Berg an Schulden angehäuft und seine engsten Freunde belogen, bis er schließlich vor etwa zehn Jahren die Entscheidung fällte, sein Leben zu beenden. „Ich stand am Rand des Bahngleises und sah schon die Lichter der einfahrenden U-Bahn“, erzählt Christoph. „In dem Moment kam eine Schulklasse die Treppen runter. So kleine Steppkes.“ Zu springen und die Kleinen mit seinem „eigenen Scheiß“ zu traumatisieren, habe er nicht über sich gebracht. Wie in Trance sei er stattdessen in die U-Bahn gestiegen und später durch die Stadt geirrt, bis er plötzlich mitten in St. Georg auf ein zufällig zu diesem Zeitpunkt stattfindendes Treffen für anonyme Spielsüchtige stieß. Sein Rettungsanker.
Während Christoph spielfrei ist und seine Probleme inzwischen im Griff hat, beginnt für Denise die Traumabewältigung erst jetzt. Seit einem halben Jahr nehme sie keine Drogen mehr, sagt die junge Frau, für die der Konsum von Cannabis und Amphetaminen zum Alltag gehörte. „Seit der Pubertät war ich noch nie so lange clean“, sagt sie und lacht ein wenig verlegen.
Fast entschuldigend fügt sie noch an, dass sie nun mal über Jahre in der Gastro gearbeitet habe. Aufputschmittel waren immer im Spiel. Aber nie habe sie sich vorstellen können, auf der Straße zu landen. „Ich dachte immer, Obdachlose sind stinkend faul“, sagt Denise. Doch dann ging vor drei Jahren ihre Ehe in die Brüche. Es folgte ein Absturz, an dessen Ende Denise erstmals die Tagesaufenthaltsstätte für Suchtkranke, das Drob Inn, aufsuchte und schließlich ihre Nächte im Winternotprogramm verbrachte.
„Was ich gelernt habe, ist, nicht zu fragen, wer der Schuldige ist“, sagt Peer-Berater Christoph. Wichtiger sei, wie man wieder rauskommt aus der Krise und nach Lösungen zu suchen. „Menschen werden nicht als Obdachlose geboren.“
Der erste und wichtigste Schritt sei dabei die eigene Wohnung. Christoph weiß, wovon er spricht, auch wenn er nie Teil eines Housing-First-Projekts war. Erst danach könne man an sich selbst arbeiten. Der heutige Peer hat das Glück, einen Vermieter zu haben, der in den vergangenen Jahren mehrfach beide Augen zugedrückt hat, wenn Christoph einen Rückfall erlitt.
Auch Denise hat längst erkannt, dass sie an sich arbeiten muss. „Aber in Therapie gehen und danach wieder auf der Straße landen, das ergab für mich keinen Sinn“, sagt sie. Die Straße hat sie einiges gelehrt. Auch, dass Obdachlose alles andere als faul sind. „Wer einmal obdachlos ist, kommt da alleine nicht mehr raus“, sagt die gebürtige Schleswig-Holsteinerin. „Der Wohnungsmarkt in Hamburg ist eine Katastrophe.“
Ihr Glück war, dass dem ersten Gespräch über Housing First in der Tagesaufenthaltsstätte schnell weitere Schritte folgten. Weil Denise Bürgergeld bezieht, zahlt das Jobcenter ihre Miete. Deswegen konnte sie ins Projekt aufgenommen werden und traf Anna-Lena Ouarzazi. Die Immobilienexpertin arbeitet mit einer halben Stelle für die Rautenberg-Gesellschaft und sucht händeringend nach Wohnungen, um noch mehr Menschen im Projekt aufnehmen zu können. Dieses Mal hatte sie Erfolg. Seit Juli lebt Denise in Wilhelmsburg. Innerhalb weniger Wochen hat sie sich selbst um die komplette Einrichtung gekümmert, sagt Sozialarbeiterin Klein. Über Kleinanzeigen und mithilfe von Freunden hat sie bereits eine Couchecke, ein Bett und einen Wandschrank mit Fernseher beschafft. Die Einrichtung wirkt alles andere als provisorisch. Eher etwas spießbürgerlich. Positiver ausgedrückt: so wie eine Wohnung, in der jemand angekommen ist und bleiben will. Auch eine neue Mitbewohnerin hat sie bereits: eine junge Hündin, die sie aus dem Tierheim geholt hat. „Ich bin selbst baff, wie schnell es bei Denise ging“, sagt Isgard Klein, die für die Gespräche mit anderen ehemals Obdachlosen deutlich mehr Zeit aufwenden muss.
Weil sie den Geruch von Marihuana nicht mehr aushalte, habe sie den im Hinterhof kiffenden Jugendlichen eine deutliche Ansage erteilt, erzählt Denise. „Ich habe die wie eine alte Mutti mit ’nem Pantoffel in der Hand durch den Hof gejagt“, erzählt sie und lacht. Seitdem herrsche Ruhe vor ihrem Fenster.