Fußballprofi Jackson Irvine vom FC St. Pauli spricht im Interview über die Herausforderungen als Bundesliga-Aufsteiger, Obdachlosigkeit und darüber, was der Männer- vom Frauenfußball lernen kann.
Hinz&Kunzt: Nach dem Aufstieg in die Erste Bundesliga herrschte Euphorie im Verein und in der Stadt. Dann verließen mit Marcel Hartel der Topscorer und mit Fabian Hürzeler der Trainer den Verein. Klingt nach Katerstimmung.
Jackson Irvine: Nein, ganz und gar nicht. Natürlich haben wir die Abgänge nicht gewollt, aber das ist Teil des Fußballs. Die meisten von uns sind schon lange genug dabei, um zu wissen, dass so etwas passieren kann. Und Veränderung kann auch etwas Positives sein.
In der Bundesliga wird St. Pauli allerdings eines der Teams mit dem kleinsten Budget sein. Droht der direkte Wiederabstieg?
Natürlich wird der Fußball auf einem ganz anderen Niveau sein. Wenn wir aber weiter vorantreiben, was uns in den letzten Jahren erfolgreich gemacht hat – die fußballerische Identität der Mannschaft – dann haben wir die besten Chancen, auf dem Platz erfolgreich zu sein. Wichtig wird es sein, uns dieses positive Gefühl zu bewahren. Denn es wird auch schwierige Momente geben. Ich bin seit drei Jahren hier und habe weit mehr Spiele gewonnen als verloren – diese Saison wird eine ganz andere Art von Herausforderung.
Ist das Team bereit, die UnderdogRolle anzunehmen?
„Vereine und Fans können noch mehr tun.“
Dass wir der Underdog sind, wird wahrscheinlich von außen so wahrgenommen, aber wir haben eine sehr starke Mentalität in der Mannschaft. Wir sind in die letzte Saison gegangen und haben gesagt, dass wir Meister werden wollen. In dieser Saison werden wir mit einer anderen positiven Einstellung an die Sache herangehen. Wir wollen nicht im Tabellenkeller verharren. Wir wollen weitermachen, unser Spiel vorantreiben und unseren Fußball in der Bundesliga spielen.
Der FC St. Pauli hat sich in den letzten Jahren immer mehr professionalisiert, es aber trotzdem geschafft, eine starke politische Stimme zu sein. Was bedeutet die größere Bundesligabühne für die politische Seite des Vereins?
Natürlich bedeutet eine größere Plattform, dass die eigene Stimme lauter ist und mehr Menschen hören, was man zu sagen hat. Aber ich glaube nicht, dass es die Art und Weise ändern wird, wie wir als Verein agieren. Wir leben weiterhin die Werte, die wir vertreten wollen. (Anmerkung der Redaktion: Der FC St. Pauli steht etwa für Antifaschismus, Antirassismus, Toleranz und hat sich in der jüngsten Vergangenheit gegen den zu großen Einfluss von Investoren im Fußball stark gemacht.)
Während der vergangenen Europameisterschaft hat sich Kylian Mbappé gegen die extreme Rechte in Frankreich ausgesprochen, Spaniens Torwart Unai Simón hingegen hat erklärt, dass sich die Spieler auf den Fußball konzentrieren und nicht in die Politik einmischen sollten. Welche politische Verantwortung haben Fußballprofis?
Ich finde es gut, dass man die Option hat, beides zu tun. Wenn Profis ihre Bekanntheit und ihre Stimme nutzen wollen, sollten sie diese Freiheit unbedingt haben. Wenn sie das nicht wollen, ist das auch in Ordnung. Mbappé hat niemanden aufgefordert, auf eine bestimmte Art und Weise zu wählen. Er hat sich gegen eine Ideologie ausgesprochen, von der er glaubt, dass sie gefährlich für die Menschen in Frankreich ist. Und das finde ich lobenswert.
Wie besorgt sind Sie persönlich über den Zustand der Welt, über den Erfolg rechtsextremer Parteien, über Kriege, über den Klimawandel?
Das ist die Realität, in der wir uns derzeit an vielen Orten befinden. Das sind Themen, die den Alltag vieler Menschen beeinflussen – weitaus stärker als mein eigenes Leben. Ich bin mir darüber im Klaren, dass es manchmal einfach ist, von meinem Standpunkt aus über bestimmte Themen zu sprechen. Aber Themen wie der Klimawandel: Nehmen Sie mein Heimatland Australien. Wir tragen durch unsere eigenen Emissionen maßgeblich mit zum Klimawandel bei – und spüren gleichzeitig die Auswirkungen auf unser Leben, wie an kaum einem anderen Ort auf der Welt. Genau darüber müssen wir eine Debatte führen, und ich bin froh, dass das auch passiert. Denn wenn mehr Menschen über diese Themen Bescheid wissen, dann zwingt das die Politik und die Menschen in Machtpositionen, Entscheidungen zu treffen und Dinge zu ändern.
Sie haben in der Vergangenheit gezeigt, dass Sie ein Unterstützer der LGBTIQ+-Gemeinschaft sind, auf dem Millerntor weht die Pride-Fahne – dennoch gibt es keine offen schwulen Fußballer in der Ersten oder Zweiten Liga in Deutschland. Was muss passieren, damit der Fußball ein Ort wird, an dem sich schwule Fußballer sicher fühlen?
Ich trage jede Woche die Regenbogen-Kapitänsbinde an meinem Arm. Das ist Teil der Identität dieses Vereins, wir wollen zeigen, dass wir aktive Unterstützer sind. Aber Vereine und Fans können noch mehr tun. Nicht nur in Bezug auf die LGBTIQ+-Gemeinschaft, sondern ganz grundsätzlich, um eine Kultur zu schaffen, in der Fußball für alle da ist. Wenn der Fußball ein Umfeld ist, in dem Menschen das Gefühl haben, sie selbst sein zu können, dann hoffe ich, dass wir mehr schwule Fußballer sehen werden. Bei den Frauen ist das bereits der Fall: Sie haben eine ganz andere Kultur rund um den Sport, was die Fankultur und alles andere angeht. Das hat eine Gemeinschaft hervorgebracht, die nicht nur bei den Spielerinnen, sondern auch bei den Fans offener ist und einfach ein ganz anderes Gefühl vermittelt. Ich denke, dass wir im Männerfußball noch einen weiten Weg vor uns haben, bis wir offen schwule Fußballer in allen Spielklassen des Weltfußballs sehen werden.
Welche Rolle spielt der extreme Männlichkeitskult im Profifußball?
Ich bin in Großbritannien aufgewachsen und hatte schon damals lange Haare. Ich habe homophobe Gesänge, chauvinistische Kommentare und alles Mögliche selbst erlebt. Ich kann verstehen, dass man sich als schwuler Fußballer von dieser Art von Druck fernhalten möchte. Aber ich glaube, nur Menschen, die sich in dieser Situation befinden und sich nicht geoutet haben, können diese Barrieren wirklich erklären. Für uns kann es nur darum gehen, so viele Barrieren wie möglich abzubauen.
Im Jahr 2021 hatte Josh Cavallo vom australischen Erstligisten Adelaide United FC sein Coming-out, vor Kurzem hat er seinem Partner auf dem Spielfeld einen Heiratsantrag gemacht. Welche Bedeutung hat ein solches Outing für den Spieler selbst, aber auch für den Fußball als Ganzes?
Allein diese Sichtbarkeit ist eine unheimlich große Sache. Die überwältigende Unterstützung, die er in dieser Zeit erhielt, war unglaublich. Gleichzeitig gab es aber leider auch homophobe Gesänge und solche Dinge. Ich glaube, für Josh persönlich war es wichtig, dass er die Plattform, die er als Spieler in einer Profiliga hat, auf so positive Weise nutzen konnte. Und ich hoffe, das macht einen großen Unterschied für den Fußball als Ganzes.
Sie leben mitten auf St. Pauli. Wie erleben Sie Armut und Obdachlosigkeit in Hamburg?
„Obdachlosigkeit ist eine der Fragen unserer Zeit.“
Obdachlosigkeit ist eine der Fragen unserer Zeit. Ich glaube, wir werden auf das Thema Obdachlosigkeit in Zukunft in ähnlicher Weise zurückblicken, wie wir heute auf die Segregation oder andere Übel zurückblicken und uns fragen: Wie konnten wir das bloß zulassen? Ich verfolge die deutsche Politik nicht genau genug, um zu wissen, wie es um die Ausgaben für bezahlbaren Wohnraum in Deutschland und in Hamburg bestellt ist. Was ich weiß ist, dass Hamburg keine billige Stadt ist und dass es ein Problem ist, hier eine Wohnung zu finden.
Können Sie einen Unterschied zwischen Hamburg und Australien feststellen?
In Australien ist die Situation ähnlich. Die öffentlichen Ausgaben für bezahlbaren Wohnraum reichen nicht aus. Meine Mutter ist Sozialarbeiterin und arbeitet in einem Krisenzentrum für Frauen in Melbourne. Je mehr Geschichten man hört, desto besser versteht man, wie die Menschen in diese Situation geraten. Es ist nicht so, dass die Menschen immer gleich zu Drogen greifen oder psychische Probleme haben – es gibt so viele Wege, wie Menschen in die Obdachlosigkeit geraten können. Das ist etwas, wofür wir auf jeden Fall mehr Bewusstsein schaffen sollten.
Wie ist es für einen Profifußballer, an einem Ort wie St. Pauli zu leben, wenn man bedenkt, dass Profifußballer oft abgeschottet und geschützt sind?
Ja, das ist schon etwas anderes. Aber der Stadtteil und die Lebensweise in der Gegend beeinträchtigen mein Leben als Sportler in keiner Weise. Wenn überhaupt, dann denke ich, dass das Leben in anderen Gegenden, in anderen Nachbarschaften, mir ein besseres Verständnis für das Leben anderer vermittelt. In Umgebungen wie St. Pauli entwickeln sich auch die Kunstwelt, die Musikkultur und alles andere in ganz besonderer Weise. Und das sind Dinge, an denen ich auch gerne teilhabe. Es ist also ein perfekter Ort für mich.
Machen Sie sich Sorgen, dass Sie Ihren jetzigen Lebensstil, im Viertel abzuhängen, Bars zu besuchen, nicht mehr leben können, wenn Sie in der Ersten Bundesliga spielen und Ihre Bekanntheit weiter steigt?
Das ist Teil der Realität eines Fußballers, das ist Teil meines Lebensstils. Mein Leben ist sehr öffentlich. Ich bin sehr präsent in der Nachbarschaft, ich esse in den Restaurants im Viertel, ich schaue hier Fußball. Die Leute wissen, dass ich hier lebe. Ich denke, es geht immer um ein Gleichgewicht. Meistens erkennen die Leute, wann der richtige Zeitpunkt ist und wann nicht. Ich habe es nie als übermäßig aufdringlich empfunden. Wir werden sehen, wie sich das in Zukunft ändern wird. Wenn wir die ersten drei Spiele verlieren, könnte es ganz anders aussehen. Vielleicht spricht dann niemand mehr mit mir. (grinst)
Nach allem, was wir besprochen haben: Worauf freuen Sie sich am meisten in der neuen Saison?
Um ehrlich zu sein, aus einem ganz egoistischen Blickwinkel heraus, ist es einfach die Chance, mich selbst zu testen. Alles, was ich in meiner Karriere immer wollte, ist die Möglichkeit, auf höchstem Niveau zu spielen. Ich habe meine ganze Karriere in der zweiten englischen Liga, natürlich in der Zweiten Liga hier und in kleineren Ligen wie in Schottland gespielt. Die Teilnahme an Weltmeisterschaften hat mir einen kleinen Vorgeschmack darauf gegeben, wie es ist, gegen die besten Spieler anzutreten und auf der größten Bühne zu spielen – und das ist es, was ich mir immer gewünscht habe: eine Chance, auf diesem Niveau zu spielen. Ich freue mich einfach darauf, jede Woche alles zu geben, gegen die Besten zu spielen und hoffentlich zu zeigen, dass ich auf dieses Niveau gehöre.