Was verbinden Menschen, die ihr Zuhause notgedrungen verlassen mussten, mit dem Wort Heimat? Die keinen Kontakt zu ihrer Familie haben, die noch mal von null anfangen mussten, oftmals ohne Bleibe, auf sich allein gestellt, weit entfernt vom Geburtsort in einer fremden Stadt? Wir haben vier Hinz&Kunzt-Verkäufer:innen gefragt.
„Die Familie ist meine Heimat“
Fanel (28) verkauft Hinz&Kunzt seit 2018
Meine Heimat ist die Familie: meine Frau, unsere beiden Kinder, meine Eltern und meine Großeltern. Sie alle leben in Rumänien, in einem Dorf in den Karpaten. Jede Großfamilie lebt dort gemeinsam in einem kleinen, selbstgebauten Holzhaus. In unserem gibt es vier Zimmer: eines für meine Frau und die Kinder, eines für die Eltern, eins für die Großeltern und eines als Wohnzimmer für alle gemeinsam. Duschen gibt es bei uns nicht, nicht mal fließend Wasser. Zur Toilette gehen wir auf Plumpsklos.
Ich denke ständig an meine Familie, vor allem an die Kleinen. Auf dem Handy habe ich Fotos von ihnen, so kann ich sie jederzeit sehen. Und wenn ich etwas Geld überhabe und mir Guthaben für die Prepaid-Karte kaufen kann, rufe ich meine Familie an. Was soll ich machen? In Rumänien gibt es keine Jobs für mich und damit kein Einkommen.
Arbeit gibt es nur noch für die Alten. Die binden Besen aus Holz und verkaufen sie in den umliegenden Dörfern – für Eier, Käse oder Fleisch. Früher konnten sich von dieser Arbeit Familien ernähren, heute werden die Besen immer seltener gekauft. Die jungen Leute aus unserem Dorf sind längst ins Ausland gegangen: nach Deutschland oder nach Spanien etwa.
Alle zwei bis drei Monate fahre ich zu meiner Familie und bringe ihr Geld. Zuletzt war ich im Mai dort, für sechs Wochen. 120 Euro kostet das Busticket, für eine Strecke. Für die Rückfahrt muss ich mir jedes Mal im Dorf Geld leihen, das ich später zurückzahle.
In Hamburg lebe ich seit rund zehn Jahren. Anfangs habe ich vom Betteln gelebt. Eines Tages hat mich dann ein Hinz&Kunzt-Verkäufer mit zum Straßenmagazin genommen. Gerne würde ich meine Familie nach Hamburg holen. Doch wo sollen wir leben? Eine Wohnung habe ich leider nicht. Gemeinsam mit zwei Landsleuten schlafe ich in einem leer stehenden Haus.
Mein größter Wunsch ist, dass meine Kinder nicht mehr in Armut leben müssen. Noch gehen sie zur Grundschule im Dorf, das kostet nichts. Aber bald schon werden wir Geld brauchen, für die Busfahrten zur weiterführenden Schule und fürs Essen dort. Und Schuhe und eine Winterjacke brauchen die Kleinen auch bald wieder.
Ich konnte nur acht Jahre zur Schule gehen und habe keine Ausbildung gemacht, weil meine Eltern sich das nicht leisten konnten. Meine Kinder sollen es besser haben.
„Ich bin jeden Tag bei Hinz&Kunzt“
Ursula (61) verkauft Hinz&Kunzt seit 2008
Meine alte Heimat ist die Lüneburger Heide. Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen und hatte eine schöne Kindheit. Meine Geschwister und ich haben früh mitgeholfen, Kartoffeln gesammelt, Steckrüben geerntet, Blaubeeren gepflückt. Als ich älter war, hat meine Mutter gesagt: „Komm, setz dich auf den Trecker!“ Und dann bin ich mit dem Trecker losgefahren.
Mit 16 war meine Jugend auf einen Schlag vorbei: Ich habe eines Abends auf die Kinder meiner älteren Schwester aufgepasst, sie war auf einer Hochzeit eingeladen. Da hat mich mein Schwager vergewaltigt. So habe ich mein erstes Kind bekommen.
Als ich 17 war, habe ich meine Mutter fast tot in der Waschküche gefunden. Sie hatte sich an einem Trittstein verletzt, sodass eine Krampfader geplatzt war, und musste ins Krankenhaus. Kurz darauf ist sie an einem Herzinfarkt gestorben.
Mit meinem ersten Ehemann habe ich fünf Kinder bekommen. Eines Tages wollte ich mit ihnen ins Schwimmbad. Meine Tochter hatte den Kleinsten an der Hand, der riss sich los, rannte auf die Straße und wurde von einem Auto erfasst. Es war schrecklich, er war klinisch tot. Heute lebt er schwerbehindert in einem Heim.
Ich bin mit diesen schlimmen Erlebnissen nicht zurechtgekommen. Deshalb bin ich nach Hamburg geflohen, habe 15 Jahre auf der Straße gelebt, zwischendurch mal hier gewohnt und mal dort. Meinen zweiten Ehemann lernte ich als Hinz&Kunzt-Verkäuferin kennen, er kam wie ich von der Straße. Einige Jahre haben wir zusammengewohnt, in Harburg, wo ich heute lebe. Aber auch er ist gestorben, vor eineinhalb Jahren, da hatten wir uns schon getrennt. Doch gekümmert habe ich mich bis zum Schluss um ihn.
Heute habe ich niemanden mehr, nur noch meine Schwester, ihre Tochter und deren Kleinen, der ist jetzt sieben. Sie leben in Niedersachsen, und ich hoffe, dass ich bald dorthin ziehen kann, denn in Harburg fühle ich mich nicht mehr wohl. Meine Schwester hat eine Wohnung für mich in Aussicht, ich kann sie mir hoffentlich bald anschauen. Wo soll ich sonst hin?
Eine Heimat habe ich nicht mehr. Doch, eine, Hinz&Kunzt. Ich komme jeden Tag ins Vertriebscafé, rede mit den Mitarbeitern, einer Sozialarbeiterin oder mit Verkäufern. Zwei, drei Stunden täglich bin ich bestimmt im Haus, ich fühle mich dort wohl. Und auch, wenn ich bald umziehen will: Hinz&Kunzt möchte ich auch in Zukunft verkaufen.
„Meine Heimat ist Hamburg“
Petr (42) verkauft Hinz&Kunzt seit 2008
Ich stamme aus Tschechien, aus der Stadt Decin kurz hinter der Grenze. Meine Heimat aber ist Hamburg. Ich lebe nun seit 16 Jahren hier, und schon am ersten Tag habe ich gemerkt: Das ist mein Zuhause. Die Menschen sind so freundlich hier! Wenn ich das Magazin auf der Straße verkaufe, wünscht mir hier jeder einen guten Morgen. Vor allem die älteren Hamburger sind sehr nette Leute. In Tschechien ist das ganz anders, finde ich.
Ich habe früher auf dem Bau und als Wachmann gearbeitet. Doch dann bekam ich immer mehr Probleme mit meiner Spielsucht und dem Alkohol. Ich wollte einen Neuanfang: Mit Zelt und Schlafsack auf dem Rücken bin ich losgelaufen, die Elbe entlang Richtung Deutschland. Eigentlich wollte ich bis an die Ostsee. Doch dann hat es mir hier so gut gefallen, dass ich geblieben bin.
Ganz besonders mag ich St. Pauli: den Hafen, die Reeperbahn und auch den Fußballverein. Die erste Zeit in Hamburg habe ich in dem Stadtteil gelebt, auf der Straße. Von Anfang an hatte ich das Gefühl: St. Pauli ist das Herz dieser Stadt.
Vor ein paar Jahren habe ich mir einen alten Wohnwagen kaufen können, in dem lebe ich auf einem Campingplatz vor den Toren der Stadt. Das Tolle ist: Meine Nachbar Tommy ist HSV-Fan, und trotzdem schauen wir uns gemeinsam Fußballspiele im Fernsehen an – weil wir uns mögen.
„Heimat spielt keine Rolle für mich“
Peter (72) verkauft Hinz&Kunzt seit 2002
Ich komme ursprünglich aus Duisburg-Marxloh. Anders als mein Vater, der als Bergmann gearbeitet hat und früh gestorben ist, wollte ich immer in der Gastronomie arbeiten. Ich wollte keine Staublunge, sondern raus in die weite Welt. Das habe ich auch geschafft. Nach meiner Ausbildung habe ich in Berlin, in Österreich und in der Schweiz gearbeitet. Danach bin ich erst mal wieder zurück nach Duisburg gekommen. Aber dann ist meine Ehe gescheitert, und ich hatte einen Bandscheibenvorfall, durch den ich nicht mehr arbeiten konnte. Danach wollte ich einen Schlussstrich ziehen. Ich habe meine Wohnung gekündigt und die Stadt verlassen. Zunächst habe ich in Berlin in verschiedenen Obdachloseneinrichtungen gelebt, seit mehr als 20 Jahren bin ich nun in Hamburg und habe auch nicht vor, noch einmal wegzugehen. Ich mag die Leute hier und habe ein Zimmer in einer Seniorenwohnanlage. Da bin ich aber nur zum Schlafen, tagsüber verkaufe ich Hinz&Kunzt in Wandsbek. Ob Heimat für mich wichtig ist? Das kann ich gar nicht so genau sagen. Natürlich ist der Ort, an dem ich gerade bin, wichtig für mich. Weil ich dort lebe. Heute ist Hamburg meine Heimat, als ich in Berlin gelebt habe, war Berlin meine Heimat und früher war es Duisburg. Das hat sich immer verändert. Aber Heimat an sich oder der Begriff Heimat – das spielt für mich keine Rolle.