Klagen gegen Polizeieinsätze

Vertreibung auf die Agenda holen

Hinz&Künztlerin Annie posiert für die Kampagne  #ABSEITSABSCHAFFEN. Foto: GRX2 - Graeser & Gromatzki
Hinz&Künztlerin Annie posiert für die Kampagne  #ABSEITSABSCHAFFEN. Foto: GRX2 - Graeser & Gromatzki
Hinz&Künztlerin Annie posiert für die Kampagne #ABSEITSABSCHAFFEN. Foto: GRX2 - Graeser & Gromatzki

Rund um den Hamburger Hauptbahnhof geht die Polizei gegen obdachlose und bettelnde Menschen vor. Luisa Podsadny und Mareile Dedekind von der Gesellschaft für Freiheitsrechte wollen dagegen klagen.

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Hinz&Kunzt: Der Hamburger Senat findet, es sei Aufgabe der Polizei, „die negativen Auswirkungen der Obdachlosigkeit für alle Beteiligten […] so gering wie möglich zu halten“. Wie sehen Sie das, als Juristinnen der Gesellschaft für Freiheitsrechte?

Luisa Podsadny: Wir halten diese Konzentration auf die negativen Auswirkungen für nicht zielführend. Für die Polizei wird Obdachlosigkeit nur relevant, wenn sie zur Gefahrenabwehr einschreiten muss. Als negativ empfundene Auswirkungen von Obdachlosigkeit sind nicht per se eine Gefahr im juristischen Sinne und rechtfertigen noch kein polizeiliches Vorgehen.

Mareile Dedekind: Jeder Mensch in diesem Land ist grundsätzlich frei, auch wenn er von Obdachlosigkeit betroffen ist. Die Grundrechte garantieren, dass man sich frei bewegen darf und seine Identität auch nicht preisgeben muss. Der Staat kann in diese Grundrechte eingreifen. Aber das kann er nicht einfach so machen – es muss gerechtfertigt sein.

Mit der Begründung „Gefahrenabwehr“ darf die Polizei Personalien kontrollieren und Platzverweise aussprechen, was sie im Umfeld des Hamburger Hauptbahnhofs regelmäßig tut. Sind Obdachlose so gefährlich?

Mareile Dedekind: Obdachlose Personen sind nicht gefährlich, eher ist Obdachlosigkeit für die betroffene Person eine Gefahr. Platzverweise sind ein gezieltes Mittel, um Obdachlosigkeit für Personen, die sich davon gestört fühlen, unsichtbar zu machen. Das passiert am Hauptbahnhof am laufenden Band. Es gibt auch Verhaltensweisen, die bei sichtbar von Obdachlosigkeit Betroffenen kriminalisiert werden, die bei anderen Personen nicht zu Platzverweisen führen würden: das Sitzen auf dem Boden zum Beispiel.

Rechtfertigt denn das Sitzen auf dem Boden einen Platzverweis?

Mareile Dedekind: Nein. Wir brauchen für einen Platzverweis eine konkrete Gefahr, dass die Rechtsordnung nicht eingehalten wird, in diesem Fall das Hamburger Wegegesetz. Der öffentliche Raum ist für alle da, man kann dort sitzen, stehen und liegen. Auch stilles Betteln ist vom erlaubten Gemeingebrauch umfasst. Ob das auch fürs Schlafen gilt, ist umstritten.

Ein Sonderfall ist der Bahnhof selbst und einige umliegende Flächen: Hier hat die Bahn Hausrecht, es gilt die Hausordnung, die etwa das Betteln verbietet. Grundrechte gelten aber auch gegenüber Privatunternehmen, die in Staatseigentum stehen.

Luisa Podsadny: Das Betteln ist in der Hausordnung ohne jede Differenzierung, ob still oder aggressiv gebettelt wird, verboten. Die Bahn ist in Staatseigentum und an Grundrechte gebunden, sie darf nicht Verhaltensweisen, die vom Gemeingebrauch umfasst sind, bei sich verbieten – es sei denn, der ordnungsgemäße Betrieb des Bahnhofs würde erheblich beeinträchtigt werden. Wenn eine Person ein Hausverbot erhält, weil sie still bettelt, halten wir das rechtlich für angreifbar.

Was kann man tun, wenn man sich ungerecht behandelt fühlt?

Luisa Podsadny: Man hat immer das Recht, den Dienstausweis der Polizei zu sehen und zu fragen, was das für eine Maßnahme ist. Man hat auch das Recht auf eine schriftliche Bestätigung der polizeilichen Maßnahme mit einer Begründung, wenn man sagt, dass man diese braucht, um die Maßnahme zu prüfen. Wenn man die Maßnahme für rechtswidrig hält, kann man Widerspruch einlegen oder vor dem Verwaltungsgericht klagen.

Mareile Dedekind: Solche Platzverweise landen aber selten vor Gericht. Obdach- und wohnungslose Personen haben aufgrund fehlender finanzieller Kapazitäten, fehlenden Wissens und fehlender Unterstützungsmöglichkeiten oft keinen Zugang zum Recht. Das ist ein grundlegendes Problem.

Sie wollen Obdachlose, die vom Bahnhof vertrieben wurden, anwaltlich unterstützen. Sollten Sie vor Gericht gegen die Polizei gewinnen: Glauben Sie, dass das an deren Vorgehen auf der Straße etwas ändert?

Luisa Podsadny: Wir machen strategische Prozessführung, also Prozesse für Grund- und Menschenrechte, die eine Wirkung über den Einzelfall hinaus entfalten sollen. Unser Ziel ist es, das Thema auf die Agenda zu holen und zu zeigen, dass es ein Problem gibt. Letztlich wollen wir dazu beitragen, dass es einen politischen und gesellschaftlichen Wandel gibt. Dazu kann ein Klageverfahren einen Beitrag leisten.

Ein Arbeitskollege wurde nach einer Personalienkontrolle kürzlich von einem Polizisten gefragt, wieso er sein Feierabendbier in Bahnhofsnähe trinkt und nicht in seinem Stadtteil. Das war kein Platzverweis, aber mehr oder weniger subtiler Druck mit der Botschaft: „Du bist hier nicht willkommen.“

Mareile Dedekind: Das ist eine subtile Machtausübung, die einen ähnlichen Effekt hat wie eine hoheitliche Maßnahme. Die Staatsgewalt ist in dem Moment präsent und die Person hat das Gefühl, dass sie sich unterzuordnen hat. Die Präsenz der Streifen am Hauptbahnhof führt zu politisch gewollten Einschüchterungseffekten, auch darauf wollen wir aufmerksam machen.

Dagegen kann man aber nicht klagen.

Mareile Dedekind: Das Recht ist nur ein Baustein. Wir brauchen ein kollektives Umdenken in der Gesellschaft dahingehend, dass Obdachlosigkeit kein individuelles Versagen ist, sondern die Folge systemischer Probleme wie des Fehlens bezahlbaren Wohnraums.

Artikel aus der Ausgabe:

Das Spiel mit dem Geld

Unser Blick auf die EM: Was Sportwetten für Spielsüchtige bedeuten, ein Ausblick auf die Homeless Europameisterschaft und ein Portrait von Europas bester Blindenfußballerin, Thoya Küster vom FC St. Pauli.

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Autor:in
Benjamin Buchholz
Benjamin Buchholz
Früher Laufer, heute Buchholz. Seit 2012 bei Hinz&Kunzt. Redakteur und CvD Digitales.

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