Seit mehr als einem Jahr kontrolliert die Polizei verstärkt bettelnde und obdachlose Menschen rund um den Hauptbahnhof und stellt Platzverweise aus. Welche Auswirkungen hat das?
Nur wenige Meter vom S-Bahnhof Holstenstraße entfernt drängen drei überdreht wirkende Männer in den Seiteneingang eines Altbaus in der Stresemannstraße. Draußen schieben sich in der prallen Mittagssonne lautstark Autos über die vierspurige Straße. Drinnen ist es kühl, aber noch lauter – obwohl sich keine zehn Menschen in den spärlich eingerichteten Räumen aufhalten.
Für Florian Pittner ist das laute Gewusel Alltag. Der Sozialarbeiter und Suchttherapeut ist seit der Eröffnung vor vier Jahren in der Einrichtung, die vor allem für Crack-Konsumierende ein beliebter Anlaufpunkt geworden ist. „Ich komme einfach gerne hierher“, sagt beispielsweise Steffi*. Die 39-Jährige ist mehrmals die Woche im Tagestreff zu Gast und nutzt auch die Angebote der Sucht- und Sozialberatung. „Fast familiär“ sei die Stimmung, pflichtet ihr André* bei. Er ist wie Steffi crackabhängig. Früher, erzählen sie, haben sie Heroin genommen und waren regelmäßig Gast im Drogenkonsumraum Drob Inn. Doch die hohe Gewaltbereitschaft unter den Besucher:innen dort, vor allem aber die vielen Polizeikontrollen in den vergangenen Monaten hätten dazu geführt, dass beide „kaum noch am Hauptbahnhof sind“.
„Ich frage mich, wie das etwas ändern soll.“
Sozialarbeiter Florian Pittner
Steffi und André sind keine Ausnahmen. Ihre Erzählungen decken sich mit den Geschichten anderer Besucher:innen der Einrichtung. Auch Sozialarbeiter Florian Pittner meint, dass die wachsende Zahl seiner Gäste etwas mit der veränderten Politik rund um den Hauptbahnhof zu tun hat. Die Entwicklung kann er mit Zahlen belegen: Suchten früher um die 20 Gäste den Tagestreff auf, drängten sich vergangenen Winter bis zu 150 Menschen in den kleinen Räumen. Selbst das Bezirksamt Altona spricht auf Nachfragen der SPD-Fraktion von einer „Verdrängung der Szene“, die sich am Holstenbahnhof bemerkbar mache. Und auch am Bahnhof Altona wächst die Zahl der Besucher:innen des nahe gelegenen Drogenkonsumraums Stay Alive, wenn die Polizei verstärkt am Hauptbahnhof kontrolliert, so Christine Tügel, Vorständin des Trägervereins der Einrichtung.
Rückblick: Die Vertreibung beginnt
Frühjahr 2023: Sozialarbeiter:innen berichten erstmals von der Vertreibung bettelnder Menschen aus der Hamburger Innenstadt (siehe H&K April 2023). Behörden und Polizei wollen zwar nicht von einem Bettelverbot sprechen, räumen aber ein, dass sie ihre Mitarbeitenden bezüglich der geltenden Verbote von „aggressivem Betteln“ und „Lagern im öffentlichen Raum“ nochmals „sensibilisiert“ haben. Neue sogenannte Quatro-Streifen verstärken den Druck: Polizist:innen gehen gemeinsam mit Sicherheitsleuten der Bahn und der Hochbahn auf Streife im und um den Hauptbahnhof herum. Nach mehr als 5000 Kontrollen in den ersten sechs Monaten wurde die Maßnahme im Herbst vergangenen Jahres noch einmal deutlich ausgeweitet, und 200 zusätzliche Einsatzkräfte wurden am und im Bahnhof zusammengezogen.
Wohin die Vertriebenen ausweichen, lässt sich schwer nachvollziehen. Fragt man Straßen-sozialarbeiter:innen in den Bezirken, berichten fast alle von verstärkten Wanderungsbewegungen. Heißt: Auf ihren Rundgängen begegnen sie immer wieder neuen Obdachlosen. Ob die aus der Innenstadt kommen und welche Hilfe sie benötigen, ist kaum feststellbar, so die Sozialarbeitenden – weil sie die Menschen meist nur ein oder zwei Mal treffen. Um ihr Vertrauen zu gewinnen, brauche es aber oft Monate.
Verzweifelte Eltern
Die Verdrängung macht sich auch in St. Georg bemerkbar. Dort wohnt seit mehr als zehn Jahren Clara Müller*. „Wer nach St. Georg zieht, weiß, wohin er zieht“, sagt sie. Was die zweifache Mutter damit ausdrücken will: Drogen und ein gewisser Schmuddel gehören nach ihrer Ansicht zur DNA des direkt am Hauptbahnhof gelegenen Stadtteils. Vergangenes Jahr jedoch hätten der Drogenkonsum, der aggressive Verkauf von Drogen und die Vermüllung Auswüchse angenommen, die für sie nicht mehr erträglich waren. Sie habe den Austausch mit anderen Eltern gesucht und festgestellt, dass alle die gleichen Erfahrungen machen. Gemeinsam gründeten sie eine Elterninitiative. „Wir wollen die Menschen nicht vertreiben“, sagt Müller, „sondern zurück zu einem normalen Miteinander im Stadtteil. So wie es über Jahre funktioniert hat“.
Unter dem Motto „Zurück zu einem respektvollen Miteinander“ hat Müller mehrere Hundert Unterschriften gegen die „Verwahrlosung“ ihres Viertels gesammelt. Dass zwischen St. Georg und dem Drob Inn jetzt sogenannte Sozialraumläufer:innen unterwegs sind, die unter anderem gegen Wildpinkler vorgehen sollen, kann man als Reaktion der Stadt auf die Klagen der Eltern begreifen. Auch wenn diese für mehr Ordnung sorgen, bleibt das Problem der Obdachlosigkeit bestehen. Clara Müller sagt, dass wieder deutlich mehr Obdachlose und Drogenkranke in ihrem Stadtteil unterwegs seien, seit die Stadt Anfang April das Winternotprogramm geschlossen hat. Und die vermehrten Polizeikontrollen hätten wohl eine weitere Verdrängung zur Folge.
Kontrollen an weiteren Orten
Es sei „erfahrungsgemäß nicht auszuschließen, dass die erhöhte Aufmerksamkeit an bekannten Aufenthaltsorten obdachloser oder suchtkranker Menschen auch zu räumlichen Bewegungen führt“, erklärt dazu die Sozialbehörde auf Hinz&Kunzt-Anfrage. Heißt: Mehr Kontrollen führen dazu, dass Obdachlose in andere Stadtteile ausweichen. Florian Pittner hat kürzlich mit seiner derzeit einzigen Kollegin auf den wachsenden Andrang reagiert und den Garten neben dem Tagestreff abgeschlossen. Weil sie die Grünfläche mit so wenig Personal nicht im Blick behalten konnten, hatte sie sich zur Konsumfläche entwickelt, so der Sozialarbeiter. Sein Wunsch ist eindeutig: mehr Personal. Die Sozialbehörde räumt ein, dass die Besucher:innenzahl „weiterhin die Kapazitäten übersteige“. Aber, so eine Sprecherin: „Die Überlegungen zur Entlastung der Einrichtung sind noch nicht abgeschlossen.“
Eine weitere Reaktion vollzieht sich nach dem üblichen Schema: Die Polizei kontrolliert nun auch verstärkt rund um den Holstenbahnhof. Als Sozialarbeiter Pittner Feierabend gemacht hat, stolpert er förmlich in eine Kontrolle. Fünf seiner Klienten werden keine hundert Meter vom Tagestreff entfernt durchsucht. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Beamten fündig werden, ist hoch. Pittner sagt nur: „Ich frage mich, wie das etwas ändern soll.“