In seinem neuen Roman „Alle meine Geister“ blickt Uwe Timm zurück auf seine Lehrjahre im Hamburg der Fünfzigerjahre. Ein Gespräch über Heimatverbundenheit, das Aufbrechen alter Denkmuster und alte und neue Nazis.
Hinz&Kunzt: Von der „Entdeckung der Currywurst“ über „Am Beispiel meines Bruders“ bis hin zu ihrem neuen Roman „Alle meine Geister“ – immer wieder steht Hamburg im Zentrum der Handlung. Als gebürtiger Hamburger lässt Sie die Hansestadt nicht los, oder?
Uwe Timm: Was mir das Herz öffnet, sind die Elbe und das Wasser. Mein Stiefgroßvater war Kapitän und deshalb ist eine besondere Bindung entstanden.
Sie sind 1940 geboren und haben Ihre Jugend in Hamburg verbracht. Gehalten hat es Sie in der Stadt aber nicht.
Ich bin damals geflohen. Wobei, das stimmt nicht. Aber ich war froh, als ich rauskam und die Sorgen hinter mir lassen konnte. Auch davon handelt mein Buch. Hamburg war natürlich unglaublich prägend. Allein schon die Erinnerungen an meine Kindheit, die auch bestimmt war durch Hunger, durch Kälte. Während des Kriegs wurden wir nach Coburg evakuiert. Als wir zurückkehrten, war die Stadt ein einziger Trümmerhaufen. Die Straßen waren verschüttet. Nur ein Trampelpfad durch die Ruinen führte zu meiner Schule.
Was ist Ihre erste Erinnerung?
Wie ich als Dreijähriger durch die Osterstraße geschoben wurde. Rechts und links brannten die Bäume. Auch in der Luft waren lauter Flammen. Ich
„Vieles, was sich ab 1968 veränderte, brach damals in den 50ern auf.“– Uwe Timm
saß im Kinderwagen, umwickelt mit nassen Decken. Später haben sie mir erzählt, dass es Gardinenfetzen aus den brennenden Fenstern waren. Die Bilder bekomme ich nicht mehr aus dem Kopf. Ich habe damals auch die ersten Toten gesehen, Verbrannte.
Ihr vergangenes Jahr veröffentlichter Roman setzt inmitten der 1950er-Jahre an. Sie sind 14 Jahre alt und haben die Volksschule absolviert, als ihr Vater, der eine Kürschnerei betrieb, Sie dazu drängt, seinen Beruf zu erlernen. Wie kam dieses Thema in Ihnen wieder auf?
Mein Roman ist ein Corona-Buch. Ich war an einem ganz anderen Stoff dran: ein Junge, der mit 18 Jahren mit seinem Freund beim Sprayen in Berlin von der S-Bahn überfahren wurde. Ich habe viel recherchiert, war in der Szene und habe mit der Mutter gesprochen. Sprayen wird ja völlig kriminalisiert. Dabei staune ich immer wieder über die fantastischen Gemälde, an denen ich vorbeikomme. Es gibt hilflose, aber auch ganz perfekte. Der Schriftsteller und Feuilletonist Simon Strauß erzählt ja immer, dass Literatur existenziell sein muss. Doch der sitzt nur am Schreibtisch – so wie ich. Bei den Sprayern hingegen ist der Anspruch an die Perfektion mit existenziellem Einsatz verbunden.
Und dann wurden Sie vom Lockdown ausgebremst?
Ja, ich konnte nicht mehr nach Berlin reisen und zwei Jahre lang kaum noch Leute treffen. In der Stille fallen einem Dinge ein. Auch Personen, die ganz weit weg sind. Und die saßen mir mit einem Mal richtig im Genick und wollten, dass ich über sie schreibe (lacht).
Sie leben in München. Zwischen Ihrem Wohnort und dem Ort der Romanhandlung liegen Hunderte Kilometer. Zwischen heute und der Erzählung mehr als 60 Jahre. Macht der doppelte Abstand das Schreiben leichter?
Ich denke ja. Man braucht einfach einen gewissen Abstand zu den eigenen Erlebnissen. Um für sich selbst einzuordnen, wo man gescheitert ist oder wo man denkt, es war wichtig, dass ich das damals gemacht oder nicht gemacht habe.
Sie schreiben mit viel Hingabe, wie Sie die Felle bearbeiten und zu Mänteln zusammensetzen. Heutzutage blickt man unter ethischen Gesichtspunkten ganz anders auf dieses Gewerbe. Auch das reflektieren Sie in Ihrem Roman. Wie sich das Bewusstsein wandelt und eines Tages jemand das Wort „Mörder“ an die Werkstatt schmiert.
Ich habe mich auf das sehr künstlerische Handwerk der Kürschner rückbesonnen. Mit welcher Präzision ich gearbeitet habe. Das hat mich beschäftigt und dass dieses Handwerk heute ja zu Recht ausgestorben ist.
Was aber offensichtich noch wichtiger für Sie war, das waren bestimmte Bücher, die Sie an die Literatur heranführten. Da gibt es in Ihrem Roman die Gestalt des Walther Kruse – Ihr Meister, der zugleich Sozialist ist. Die Bücher, die er mitbrachte, waren „nicht wie in der Schule Pflichtlektüre, sondern es waren Geschenke“, so schreiben Sie.
Ja, er war eine der wichtigen Gestalten. Weil er aus der Arbeiterbewegung kam und zugleich ein ausgezeichneter Kürschner war. Er hat diese Zeit in Hamburg sehr mitbestimmt. Ich las eben keinen Kanon, sondern es gab Leute, die sagten: „Das musst du lesen.“ Das habe ich dann gelesen, und in vielen Fällen war es für meine persönliche Entwicklung dann ganz, ganz wichtig. Ich wollte früh schreiben, schreiben, schreiben. Aber dazu gehört ja auch lesen, lesen, lesen.
Sie entdecken Salinger, Dostojewski oder auch Benn, aber auch die Musik der damaligen Zeit spielt eine wichtige Rolle. Da schleppt dann jemand heimlich seinen Plattenspieler mit in die Werkstatt, um Jazz aufzulegen. Dizzy Gillespie war beispielsweise mir kein Begriff – ich wiederum konnte kurzerhand beim Lesen die Musik bei Spotify entdecken.
Die Zeiten haben sich sehr verändert. Ich musste mich noch monatelang mit meinem Vater streiten, bis ich mir eine Jeans kaufen konnte. Das ist heute unvorstellbar. Aber vieles, was sich ab 1968 veränderte, brach damals auf. Sei es die Mode: wie plötzlich die Röcke höher krochen. Auch das kann man sich gar nicht mehr vorstellen. Und wenn man dann zwei Jahre da so abgeschottet in seiner Wohnung hockt und über die Jugend nachdenkt, dann fallen einem all diese Dinge wieder ein (lacht).
Sie beschreiben, wie Sie sich als Geselle nicht trauen, eine Gymnasiastin anzusprechen.
Heute ist das sicherlich nicht mehr so ständisch gebunden. Aber Unterschiede bestehen fort, beispielsweise zeigt es sich an den Klamotten. Und auch da entsteht dann eine ziemlich scharfe Hierarchie. Und ganz unten sind die Obdachlosen. Dass denen der Staat nicht hilft: entsetzlich. Gestern und heute habe ich in Hamburg wieder so viele Menschen eingepackt in Eingängen liegen gesehen. Bei dem Regen. Einer hustete zum Gotterbarmen.
In Ihrem Roman sind seit der Befreiung vom Faschismus zehn Jahre vergangen. Dass in den 1950ern und auch in den folgenden Jahrzehnten Alt-Nazis Schlüsselpositionen in der Gesellschaft einnehmen konnten, spielt auch in Ihrem Roman eine Rolle. Was empfinden Sie, wenn Sie jetzt die Umfragewerte der AfD hören?
Das ist unvorstellbar, und ich bin auch ein wenig sprachlos. Ich komme aus dem harten Kern der 68er. Das war keine rein antiautoritäre Bewegung, sondern es ging im Kern auch gegen die alten Nazis, die noch in Amt und Würden waren. Heute wiederum gibt es die Probleme der Zuwanderung. Viele Menschen, die prekär leben, haben Angst, dass ihnen etwas weggenommen wird. Was sagt man denen?
Ganz offensichtlich reichen die Antworten der Regierungsparteien nicht aus.
Und auch keine Phrasen. Was richtig gut ist, ist dass die Menschen jetzt auf die Straße gehen. Da stellt sich die Frage, wie das koordiniert wird. Denn Brüche in der Bewegung kann man vorausahnen. Ist die CSU schon zu rechts, oder wo fängt man an? Ich war bei der Kundgebung in München dabei. Es war eine riesige Menge, und was besonders auffiel war, dass sehr viele kreative und witzige Plakate mitgeführt haben. Ironie und Kreativität sind ganz wichtig. Und was auch positiv war, war, dass zumindest in München viel Bürgertum auf die Straße ging.
Aber wird das reichen, um rechtsextreme Tendenzen zu stoppen?
Ich hoffe, dass die Proteste weitergehen und sich transformieren in Strukturen oder auch Organisationen, die unsere Demokratie dauerhaft stabilisieren.