An der polnischen Grenze helfen Freiwillige Geflüchteten

Verloren auf der Urwald-Route

Grenzzaun zu Belarus von der polnischen Seite nahe dem Ort Białowieża. Foto: Evgeny Makarov

Ein Grenzzaun und Tausende Soldat:innen sollen Geflüchtete daran hindern, von Belarus nach Polen zu gelangen. Gewalt gegen Schutzsuchende ist Alltag. Aktivist:innen kämpfen um jedes einzelne Leben.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Ein verbeulter Kombi fährt im Herbst 2023 durch einen europäischen Urwald. Stellen­weise scheint das dichte Blätterwerk von Białowieża die Straße zu verschlucken. Dann steht hinter einer Kurve im äußersten Osten Polens plötzlich die Polizei.

Im Kombi sitzen zwei Frauen und zwei Männer in Allwetterkleidung. „Wenn die Polizisten fragen, sind wir einfach Wanderer“, sagt einer der Männer. Zwei Polizisten kommen an die Fenster, fragen nach „Illegalen“ im Auto, kontrollieren den Kofferraum. Dann lassen sie den Kombi passieren.

Seit 2021 fliehen Migrant:innen verstärkt über die polnisch-belarussische Grenze. Die Präsidenten Russlands und von Belarus, Putin und Lukaschenko, haben die Flüchtlingsroute etabliert, um die Europäische Union unter Druck zu setzen. Die Menschen kommen aus Syrien, Afghanistan und afrikanischen Staaten. Um sie abzuwehren, baute Polen 2022 einen Zaun zu seinem östlichen Nachbarn. Nun aber hat Białowieża einen Kipppunkt erreicht: Im Wald regieren Polizei und Militär. Mindestens 8000 Polizist:innen, Grenzschützer:innen und Soldat:innen sind nach Angaben der Behörden an der Grenze im Einsatz.

Die Aktivist:innen im Kombi gehören zur Grupa Granica, sie helfen Geflüchteten, ihre Missionen nennen sie „Interventions“. Nach der Kontrolle fahren sie weiter, halten an einer Schotter­piste, nehmen ihre vollen Rucksäcke, lassen die Fahrerin wegfahren und ziehen los. Zunächst scheint der Wald menschenleer, dann kommt ihnen ein älterer Mann mit Hund entgegen, die Aktivist:innen grüßen. Als der Mann weitergeht, diskutieren sie, ob er gesehen habe, wo sie in den Wald hinein­gegangen sind. Manche Anwohner:innen würden zum Telefon greifen, wenn sie Geflüchtete oder Helfer:innen im Wald vermuten.

Aleksandra Chrzanowska ist eine erfahrene Aktivistin. Die 43-Jährige mit leiser Stimme und resolutem Gang weist den anderen den Weg: „Es ist ­besser, wir helfen nicht, als wenn wir unabsichtlich die Grenzer zu den Geflüchteten führen.“ Ihr Ziel sind drei syrische Männer, die es über den Zaun nach Polen geschafft haben und denen Wasser und Nahrung ausge­gangen sind. In die Dörfer trauen sie sich nicht, aus Angst erwischt zu werden. Sie haben Grupa Granica ­ihren Standort geschickt.

Aleksandra Chrzanowska arbeitet ihr ganzes Berufsleben lang mit Geflüchteten. In Białowieża habe sie feststellen müssen, „dass fundamentale Menschenrechte offen mit Füßen getreten werden“. Spricht Chrzanowska über Begegnungen mit den Grenzern, wird ihre sanfte Stimme lauter. „Ich habe schon mal den Krankenwagen angerufen, weil eine Frau mit einer klaffenden 15-Zentimeter-Wunde im Wald lag. Und die wollten nur wissen, wie ich diese Frau gefunden hätte und woher sie stammt!“ Chrzanowska betont aber auch, dass viele An­wohnende helfen würden, mit Essen oder Decken.

Der Nationalpark mit seinen ur­alten Bäumen rund um den Hauptort Białowieża hat sich durch die Situation an der Grenze dramatisch verändert. In den wenigen, eigentlich stillen ­Dörfern heulen Sirenen, rasen Jeeps mit Blaulicht vorbei. Hoteliers und ­Restaurantbesitzer beschweren sich über zu viele Sicherheitskräfte und ausbleibende Tourist:innen, manche regen sich auch über die Helfer:innen auf. Sie seien naiv, wenn sie Illegalen helfen würden, es kämen dann immer

Menschenrechte werden mit Füßen getreten.– Helferin Aleksandra Chrzanowska

mehr, sagt etwa ein Restaurantbesitzer, der seinen Namen nicht nennen möchte. Fast alle Einheimischen wünschen sich die Zeiten zurück, als Tourist:innen Wanderungen durch den Urwald buchten, um die in freier Wildbahn ­lebenden Wisente zu sehen.

187 Kilometer lang und fünfeinhalb Meter hoch ist der stacheldrahtbewehrte Grenzzaun. Wer wenige Kilometer ostwärts von Białowieża durch den Wald läuft und ihn erreicht, wird schon mal rüde von Grenzpolizisten verjagt. Juristisch haben sie dazu kein Recht, aber mit Männern mit ­Gewehr lässt sich schwer diskutieren. 2022 haben nach offiziellen Angaben knapp 16.000 Menschen versucht, die Grenze illegal zu überqueren, in der ersten Jahreshälfte 2023 waren es 21.000, aktuellere Statistiken liegen noch nicht vor.

Im Wald laufen Aleksandra Chrza­nowska und ihre Mitstreiter:innen eine Dreiviertelstunde über Baumstämme und umgehen Sümpfe – bis sie drei Männer, versteckt hinter einer Eiche, erblicken. Kurz darauf ertönt über den Baum­kronen das Surren einer Drohne. Sofort springen alle in dichtes Gestrüpp.

So versteckt, bedanken sich die Männer aus Syrien mithilfe eines Übersetzungsprogramms auf dem Smartphone von Chrzanowska für ­Essen, Wasser, Kleidung und Rettungsdecken. Sie fangen sofort an, die Suppe zu löffeln. Meistens spricht dazu der ­Älteste der drei, 52 Jahre alt, weißes, stoppeliges Haar, ausgezehrter Blick. Die b­eiden anderen sind in den Dreißigern, ihre Wangenknochen zeichnen sich überdeutlich ab. „Wir sind seit neun Tagen im Wald, vier in Polen und fünf in Belarus“, erzählt der Älteste, der hier Esat heißen soll. Die Aktivist:innen bitten, keine echten Namen zu nennen. Esat erzählt, dass sie schon einmal von polnischen Grenzern gefasst, mit der Faust ins Gesicht geschlagen und zurück nach Belarus geschickt wurden. Dies sei ihr zweiter Versuch.

Es ist nicht möglich, die Aussagen der drei Syrer zu überprüfen, aber ihre Angaben über Gewalt und illegale Pushbacks decken sich mit denen zahlreicher Geflüchteter sowie Hilfsorganisationen. „Pushback-Gates“ nennen die Helfer:innen jene etwa 100 Tore, die vorgeblich für den Wildwechsel in den Grenzzaun eingebaut wurden. Da hindurch schicken polnische Grenzschützer:innen Menschen zurück nach ­Belarus, manche mehrfach. Nach zwei Gesetzesänderungen im Jahr 2021 fühlten sich diese im Recht, wenn sie Geflüchtete, die nicht in Polen Asyl beantragen wollen, zurück über die Grenze schickten, erklären die ­Aktivist:innen. In Belarus macht die Grenzpolizei den Geflüchteten wiederum klar, dass es kein Zurück für sie gibt. Wer die Grenzregion erreicht hat, hört auf belarussischer Seite in verschiedenen Versionen einen Satz, der dort zum Mantra geworden scheint und den auch die drei Syrer nach ­ihrem gescheiterten Versuch gehört haben: „Von hier aus geht es für euch nur nach Polen oder ins Grab.“

Esat und seine Begleiter haben die vergangenen Jahre im Libanon verbracht. Sie hätten dort weggemusst, weil sie keine Arbeit mehr bekamen und befürchteten, bei einer Rückkehr nach Syrien zum Armeedienst ge­nötigt zu werden. So hätten die drei ­legal ein Visum und ein Flugticket nach Moskau erworben und seien von dort weiter nach Belarus und an die Grenze gefahren.

Sie seien aus einer Gruppe von 14 Männern übrig geblieben, die anderen seien geschnappt worden. Sie zeigen ­ihre Smartphones, die von Grenzsoldaten auf Steine geschlagen worden seien, damit sie nicht mehr geladen werden können. Eines funktioniert noch, damit hätten sie die Helfer:innen gerufen.

Die drei haben ihren Sprung über den Zaun sowie die anschließenden Tage ohne größere Verletzungen überstanden. Aber ihre Schuhe verwesen durch Nässe und Kälte ebenso wie die Füße, an denen sie festgewachsen scheinen. „Schützengrabenfuß“ nennt Aleksandra Chrzanowska das Phänomen, ein Wort aus dem Ersten Weltkrieg. Vorsichtig zieht sie Esats faulige Schuhe und Socken ab, an ­seinen Füßen glänzen tennisballgroße ­Blasen. Esat verzieht sein Gesicht. Chrzanowska schmiert die Füße mit einer Fettsalbe ein und weist ihn an, die neuen Schuhe erst später anzuziehen, seine Haut brauche Luft.

Bei einer letzten Frage aber müssen die Helfer:innen die Geflüchteten enttäuschen: Aus dem Wald rausbringen können sie sie nicht. Sie würden sich strafbar machen. Die Männer müssen selbst einen Weg finden oder Schleuser:innen, die sie gen Westen bringen. Auf ihr Fluchtziel angesprochen atmet Esat schwer aus. „Al­manya, inshallah!“ Fast alle Mig­rant:innen wollen weiter nach ­Westen, die meisten nach Deutschland. So erzählen es auch die Aktivist:innen.

Als die Helfenden den Wald wieder verlassen, achten sie darauf, einen anderen Pfad zu nehmen und nicht gesehen zu werden. Seit Oktober 2021 hat Grupa Granica nach eigenen Angaben mehr als 15.000 Hilfsanfragen bekommen, etwa zehn Prozent der Hilfesuchenden waren Frauen oder Kinder. „Mittlerweile schaffen fast nur junge Männer, diese hochgerüs­tete Grenze zu überwinden und lange genug im Wald durchzuhalten“, erklärt Aleksandra.

„Wir sind seit neun Tagen im Wald.“– Esat, Geflüchteter

Die Zahlen der Grenzpolizei zu Flüchtenden bezeichnen die Aktivist:innen als irreführend, weil manche mehrfach festgesetzt und zurück nach Belarus geschickt würden. In der Statistik tauchen sie jedes Mal von Neuem auf. Aber auch die Helfenden zählen mehr Anfragen: Waren es 2022 etwa 6000, erreichten sie diese Zahl 2023 bereits im August. Danach gingen die An­fragen laut den Aktivist:innen zurück, was sie auf immer stärkere Kontrollen von immer mehr Grenzschützer:innen zurückführten, die noch von der alten Regierung entsandt wurden. Wie sich die Lage unter der neuen polnischen Regierung unter Donald Tusk ent­wickeln wird, ist bislang nicht zu sagen, allerdings hat auch Tusk bereits eine harte Anti-Migrationspolitik angekündigt.

Nach Zahlen der Aktivist:innen starben bisher 49 Menschen auf dieser Flüchtlingsroute, wobei die Dunkel­ziffer weit darüber liege. Fragt man die Grenzschutzbehörde nach Pushbacks und Problemen an der Grenze, verweist eine Sprecherin auf „immer ­aggressivere“ Migrant:innengruppen. Auf Fragen, ob Menschen nach Belarus zurückgeschoben werden, antwortet die Sprecherin nicht.

Wie sehr die Situation an der Grenze an den Anwohnenden zehrt, kann Katarzyna Winiarska erzählen. Sie wohnt seit 15 Jahren in Białowieża und betreibt in einer ausgebauten Scheune ein Theater, das sie nach Beginn der Krise im Jahr 2021 zunächst verwaisen ließ. „Ich dachte, ich kann hier keine Aufführungen veranstalten, wenn ein paar Kilometer weiter Menschen im Wald sterben.“ Irgendwann habe sie erkannt, dass „wir hier auch etwas ­anderes brauchen als nur diese ewige Krise“. An einem Sommerabend versucht Winiarska, das Ernste und das Leichte zu vereinen. Sie hat zu einer Ausstellung geladen, die „Pushbacks sind illegal“ heißt. Auf den Fotos ­stehen sich Militär und Geflüchtete unweit des Zauns gegenüber, kauern durchnässte Menschen in Waldstücken. Nach der Ausstellungseröffnung folgt komödiantisches Stand-up-Theater. „Es ist diese Lockerheit, die die Regierung uns nimmt, weil sie immer weiter aufrüstet.“

Zwei Wochen nach der Intervention für die drei Syrer schreibt Aleksandra Chrzanowska, dass sich die drei nochmals gemeldet hätten. Sie seien wohlbehalten in Deutschland angekommen.

Artikel aus der Ausgabe:

Eigentum verpflichtet

Nässe und Wind sind für Obdachlose genauso gefährlich wie Kälte. Wir haben Betroffene gefragt, wie sich davor schützen. Im Schwerpunkt: „Eigentum verpflichtet“. Die Initiative „Hamburg enteignet“ und der Bundesverband Freier Wohnungsunternehmen im Interview. Außerdem berichtet uns Autor  Uwe Timm, wie ihm die Idee für sein neues Werk kam.

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Nik Afanasjew

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