Hinz&Künztler Torsten lebte viele Jahre in Schweden

Der Freiheitssucher

Seine Schlafplätze sind oft besonders: Torsten 2010 in Hamburg. Foto: Mauricio Bustamante

Sieben Jahre hat Verkäufer Torsten Meiners in Schweden gelebt, in selbst gebauten Hütten in der Wildnis. Bald will er zurück in sein Sehnsuchtsland.

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

An einem eiskalten, sonnigen Frühlingstag des vergan­genen Jahres nimmt das Abenteuer fast ein böses Ende. Torsten hat gerade ein verlassenes Haus entdeckt, mitten in der schwedischen Wildnis. Das könnte ein guter Schlafplatz sein, denkt der 59-Jährige und stellt sein Fahrrad ab. Plötzlich hört er Geräusche: ein Knistern, ein Krachen. Nur Zehntelsekunden später rauscht direkt neben Torsten eine gewaltige Menge Schnee herunter und begräbt sein Rad unter sich. Um ein Haar hätte die Dachlawine auch ihn erwischt. „Ich habe dagesessen, ­gezittert und gedacht: So schnell kann es gehen.“

Rückblick. Juni 2016. Der langjährige Hinz&Kunzt-Verkäufer Torsten Meiners bricht auf in ein neues Leben. Sein Ziel: Schweden. Dass er dort gut zurechtkommt, hat er ein Jahr zuvor erlebt, auf einer Drei-Monats Wanderung zum Polarkreis und zurück (H&K September 2015). Die Landschaft, die Natur, das Alleinsein: „Eine heftige Erfahrung“ sei das alles gewesen, erinnert sich Torsten und meint damit: eine gute. Zugleich ist da noch ein Gefühl, eine Sehnsucht, die er so beschreibt: „Das Leben muss noch mehr bereithalten für mich.“

Die zweite große Reise mit dem selbst gebauten Handwagen ist auch ein Versuch der Selbstheilung. Torsten ist spielsüchtig, seit vielen Jahren schon. Das Geld, das er sich tagsüber hart mit dem Verkauf des Straßenmagazins erarbeitet, verdaddelt er abends in Spielhallen. „Der psychische Druck war gewaltig.“ In einer Gesprächs­therapie – ironischerweise finanziert von der Spielautomatenwirtschaft – wird ihm endgültig klar: „Solange es die verlockenden Angebote um mich herum gibt, werde ich nicht komplett aussteigen können.“

Einen Monat benötigt Torsten allein für die Durchquerung Dänemarks, legt Hunderte Kilometer zu Fuß zurück – für den ehemaligen ­Radsportler, Fußballer, Zehnkämpfer und Ringer, der zwei Jahre zur See gefahren ist, auch im reiferen Alter kein Problem. In Schweden angekommen macht er sich auf den Weg nach ­Kristinehamn. Die Kleinstadt im ­Südwesten des Landes kennt er von seiner vorherigen Reise. Damals hatte er dort ein Schweizer Pärchen kennengelernt, dem ein Wochenendhäuschen am See gehört. „Wenn du vorbeikommst, kannst du hier immer übernachten“, haben die beiden ihm zum Abschied mitgegeben. Torsten schläft in einem Schuppen, dessen Tür immer offen steht. Doch nach einigen Tagen gibt es Ärger mit einem Nachbarn, und Torsten zieht weiter.

Nur zwei Kilometer entfernt, mitten im Wald, entdeckt er einen ehemaligen Kühlwagen. „Der war völlig intakt, stand aber bestimmt schon fünf Jahre herum, so wie die Triebe da wuchsen.“ Den gesamten Winter über bleibt Torsten dort. Jeden zweiten Tag läuft er in die zehn Kilometer entfernte Stadt und lernt in der Bibliothek den Umgang mit Computern. ­Lebensmittel fischt er sich aus den Müll­containern von Tankstellen. Das wenige Geld, das er für die Akkus seines Radios oder für eine neue Wärm­flasche braucht, verdient er sich mit dem Sammeln von Pfandflaschen. Er habe mal nachgerechnet, sagt ­Torsten. Im Schnitt habe er pro Tag sechs Euro zum Leben gebraucht. „Das Durchschnittseinkommen weltweit liegt bei 5,50 Euro. Ich bin also gerade noch auf der reichen Seite der Welt­bevölkerung geblieben.“

Im folgenden Frühjahr verwirklicht sich Torsten einen Kindheitstraum: Er heuert auf einer Hundeschlittenfarm an. Doch nach wenigen Wochen reißt ihm die Patellasehne unterhalb der Kniescheibe. An Arbeiten ist erst mal nicht mehr zu denken. Also bittet er die Farmbesitzer, ihn nach Östersund zu fahren, eine Stadt 350 Kilometer entfernt in Mittelschweden, die er ebenfalls von seiner ersten Wanderung kennt. Hier lebt er ein Jahr lang in einer leer stehenden Scheune. Eines Tages wird er von der Polizei verscheucht und baut sich ein Zuhause
im Wald. „Das Wichtigste waren die Wände: alte Werbebanner von Tankstellen mit Ösen dran, zwei mal vier Meter aus Kunstfaserstoff. Wenn man die um Bäume wickelt, einmal innen, einmal außen, wird der Wind super gestoppt und die Wärme bleibt drinnen.“ Das Dach bilden ein altes Trampolinnetz und mehrere Plastikplanen darüber.

Weil sein Camp wegen der kondensierenden Feuchtigkeit bei Temperaturen knapp um den Gefrierpunkt oft „zur Tropfsteinhöhle wird“, beschließt Torsten, sich für die Wintermonate ein weiteres Camp zu bauen: in Nordschweden. Das Wetter dort ist stabil – und das bedeutet: stabil kalt. In einigen Nächten sei die Temperatur auf bis zu minus 30 Grad gefallen, erzählt Torsten. „Das ist Hardcore. Da brauche ich dann drei Wärmflaschen und muss morgens sehr früh auf­stehen, um heißes Wasser zu kochen.“ 14 Stunden habe er an diesen dunklen Tagen im Schlafsack gelegen. „Da meditiere ich, mache ein bisschen Yoga im Liegen und schlafe.“

Sein großartigstes Erlebnis in Schweden, erzählt Torsten, war eine außergewöhnliche Begegnung. Er erinnert sich genau: Es ist der 7. Juli 2019, er ist mit dem Fahrrad auf einer Landstraße unterwegs, und es geht leicht bergauf. „Plötzlich stellt sich zehn Meter neben mir ein Bär auf die Hinterbeine!“ Torsten hat gleich doppeltes Glück: Das Tier ist noch jung, „der war nur so groß wie ein Schäferhund“. Einen Moment denkt Torsten daran anzuhalten, die Schönheit des Moments zu genießen, fährt dann aber doch weiter. Erst 200 Meter entfernt bleibt er stehen und dreht sich um. „Da habe ich noch kurz die Mutter in den Büschen gesehen. Zum Glück für mich war sie offenbar bei ihren anderen Kindern geblieben.“

Einsamkeit, sagt Torsten, sei selten sein Problem gewesen. „Anfangs hat mir jemand zum Quatschen gefehlt. Und zum Skatspielen. Aber ich habe mich dran gewöhnt. Und auch oft gedacht: Ich bin frei, ich fühle mich frei, weil ich allein bin.“ Es sind bemerkenswerte Sätze, die dieser Mann sagt. Etwa: „Menschen sind mir nicht lästig. Aber sie sind meistens negativ, Stressverursacher.“ Doch es hat sich offenbar etwas verschoben in Torstens Innerem. Als er nach Hamburg zurückkehrt, staunt er, wie viele Menschen sich freuen, ihn wiederzusehen. „Das habe ich so noch nie wahrgenommen.“ Er könne durchaus mit anderen auskommen, sagt Torsten. Und er erzählt noch von einer seiner schönsten Erinnerungen an die Zeit in Schweden: Das sei das Beachvolleyballturnier gewesen, das er im Sommer 2022 organisiert hat. „Da habe ich 20 Menschen zusammengebracht, die vorher nicht miteinander gespielt haben. Das war ein schönes Gefühl.“

Dennoch denkt Torsten immer mal wieder daran, nach Deutschland zurückzukehren, um sich einen neuen Ausweis zu besorgen. Sein alter wurde ihm vor Jahren geklaut. Eine Ausei­nandersetzung führt schließlich dazu, dass sich der Freiheitssucher auf den Weg macht. Zu dieser Zeit lebt er mal wieder in der Nähe von Östersund und kümmert sich um die Volleyballplätze im Ort. „Ich war da so eine Art Quartiersmanager.“ Eines Tages kommen zwei Jungs vorbei „und hängen sich voll in die Netze rein“. Torsten ärgert das. „Da habe ich einen der beiden am Kragen geschnappt und den ein bisschen umgedreht.“ Die Mutter des Jungen beobachtet die Szene und ruft die Polizei. Torsten wird zu einer Geldstrafe verurteilt, 250 Euro. „Das war keine Körperverletzung“, sagt er rückblickend. „Aber ich sehe ein, dass ich das Kind psychisch verletzt habe.“

Dezember 2023. Torsten verkauft Hinz&Kunzt und schläft wieder in einem leer stehenden Haus. Es scheint, als wäre alles wie früher. Doch dieser Schein trügt. Die Spielsucht hat er überwunden, sagt Torsten. „Die sieben Jahre in Schweden waren meine ­Therapie.“ Im Januar will er seinen Vater besuchen, der in Potsdam lebt. Kontakt hat es lange nicht gegeben, ­erzählt er. Deshalb will Torsten mithilfe seiner Brüder in Erfahrung bringen, ob die Reise Sinn macht: „Es könnte ja sein, dass er die Tür aufmacht und sagt: ,Von dir will ich nichts mehr wissen!‘“ Auch wenn der Sohn ungern darüber spricht: Es gibt wohl auf beiden Seiten noch offene Wunden.

In seinem Kopf hat Torsten einen klaren Plan: kommenden Juli mit ­seinem Vater dessen 88. Geburtstag feiern. Und dann, sagt er, will er wieder aufbrechen Richtung Schweden. In sein anderes Leben.

Ausgewandert!

Am Samstag, den 13. Januar um 14 Uhr, erzählt Torsten Meiners von seinen Erlebnissen in Schweden. Ernst Deutsch Theater, Friedrich-Schütter-Platz 1, Eintritt: 6 Euro (Karten nur an der Tageskasse, keine Anmeldung erforderlich)

Artikel aus der Ausgabe:

Eins geht noch?

Laut einer Studie kann sich etwa jede:r Fünfte in Deutschland vorstellen, einen „trockenen Januar“ – einen „Dry January“ – einzulegen. Wir haben für Sie ohne moralischen Zeigefinger mit Suchtexperten und Menschen gesprochen, die mit und ohne Alkohol leben. Außerdem im Magazin: Warum unser Hunger auf Fisch im Senegal zum Problem wird.

Ausgabe ansehen
Autor:in
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas schreibt seit vielen Jahren für Hinz&Kunzt - seit 2022 als angestellter Redakteur.

Weitere Artikel zum Thema