Ein Gespräch über das Leben mit und ohne Alkohol

„Da bleibt was hängen“

Jenny begann in der Pubertät, Alkohol zu trinken. Ihr Konsum erschien ihr lange Zeit normal. Foto: Miguel Ferraz

Hinz&Kunzt-Verkäufer Golem und Sozialpädagogin Jenny Guttmann verbindet ihre Liebe zum Punkrock. Was sie unterscheidet: Jenny lebt seit mehreren Jahren nüchtern, Golem ist alkoholsüchtig. Im Hinz&Kunzt-Haus treffen sie sich zu einem Gespräch über das Leben mit und ohne Alkohol.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Hinz&Kunzt: Welche Rolle spielt Alkohol in eurem Leben?

Golem: Alkohol ist bei mir schon Thema, solange ich denken kann. Mein Vater war Quartalssäufer, immer wenn Urlaub war, hat der sich weggeschossen. Meine Mutter war auch ständig betrunken. Ich würde mal sagen, ich bin besoffen auf die Welt gekommen.

Jenny: Bei mir ging es in der Pubertät los. Da wurde sich nachmittags getroffen, da haben die Freunde getrunken. Dann hat man sich abends getroffen, zum Trinken, zum Party machen, auf Konzerten. Ich habe das nie hinterfragt, weil es so selbstverständlich war. Überall wurde getrunken. So mit 15 oder 16 kamen dann die ersten Geburtstage von Freundinnen, wo es mal einen Sekt gab oder ein Bier. Später war ich in der Punkszene unterwegs. Da wurde noch mal mehr getrunken …

Aber irgendwann kam der Moment, an dem du gesagt hast, es ist zu viel. Wann war das?

Jenny: Das kam recht früh. Ich habe in der Regel bis zum Filmriss getrunken. Das war die ersten Male auch schon mit 16 oder 17. Wenn ich da am nächsten Tag verkatert lag, habe ich schon gedacht: Das war jetzt scheiße, das machst du nie wieder. Na ja, bis zum nächsten Mal.

Golem: Das kenn ich auch. Morgens denkst du: nie wieder. Und abends geht’s wieder los.

Jenny: Aber ich bin ja nicht aufge­fallen, weil alle um mich herum auch getrunken haben. Das war lustig, das war ganz normal. Den Gedanken, dass es zu viel war, hatte ich schon. Aber ich habe es nicht als schlimm oder problematisch empfunden.

Wann hat sich das geändert?

Jenny: In meinem Studium der Sozialpädagogik wurde das Thema Suchtentwicklung behandelt. Da habe ich gemerkt: Wenn ich die Theorie zu Abhängigkeitsentwicklung ernst nehme, habe ich ein Alkoholproblem.

Wie bist du damit umgegangen?

Jenny: Ich habe eine Professorin da­rauf angesprochen und ihr gesagt, dass nach den Kriterien, die wir anlegen, halb Deutschland ein Alkoholproblem hat. Darauf hat sie gesagt, dass das vielleicht stimmt, aber deshalb nicht jeder eine Therapie machen muss. Ich habe mir dann gedacht: Na ja, gut, dann kann ich weitermachen. Im Rückblick finde ich das schwierig. Wäre der Stand von Alkohol in dieser Gesellschaft ein anderer, hätte ich früher aufgehört.

Du bist nie aus der Norm gefallen?

Jenny: Nein, es hat immer alles geklappt. Ich habe drei Kinder. Ich habe in Schwangerschaft und Stillzeiten nicht getrunken. Wir sind in den Urlaub gefahren, ich habe gearbeitet. Ich habe zwei Studiengänge abgeschlossen. Nach außen hin hat alles funktioniert. Aber wie es hinter der Fassade aussieht – das ist eine andere Sache.

Golem, wie viel trinkst du momentan?

Golem: So meine acht Halbe, die brauch’ ich gerade schon. Es kommt immer drauf an. Ich bin gerade wieder in so ’nem Fluss und nerve mich selbst. Aber das wird auch wieder besser.

Jenny: Das heißt, du trinkst über den Tag verteilt? Das habe ich eher an einem Abend getrunken. Bist du dann überhaupt betrunken?

Golem: Nee, da bin ich nicht betrunken. Das ist einfach Pegeltrinken. Wenn dann abends Party ist, dann gibt’s noch mal mehr.

Wann ist dir zum ersten Mal klar geworden, dass du suchtkrank bist?

Golem: Mit zehn Jahren hatte ich meine erste Alkoholvergiftung. 2,7 Promille, da wäre ich fast gestorben. Da habe ich mir aber nie Gedanken drüber ­gemacht. Später hatte ich meine Kumpels, wir haben Musik gemacht, wir haben gefeiert und nach dem Motto „Punk’s not dead“ gelebt. Ich habe dann trotzdem gleich nach der zehnten Klasse meine Lehre als Glas- und Gebäudereiniger angefangen und auch normal gearbeitet. Aber am Wochenende war Party und Mucke machen angesagt. Richtig genervt vom Alkohol war ich nur, wenn ich zu besoffen war, um es mit der Band hinzubekommen.

Jenny: Was machst du in der Band?

Golem: Ich spiele Bass und mache ein bisschen Gesang. Heute verbieten mir meine Bandkollegen, beim Proben zu trinken. Die sagen dann: „Golem, wenn du besoffen bist, spielst du scheiße Bass.“ Da höre ich dann auch drauf.

Inwieweit gehört Alkohol zu deiner Punkrock-Identität?

Golem: Das gehört nicht unbedingt zusammen. Ich hab’ Bock, zu trinken. Aber es stört mich und es nervt mich. Für mich ist Musik das Wichtigste, nicht der Alkohol. Alkohol ist nur eine Gewohnheit. Ich hatte auch schon ­Zeiten, in denen ich nichts oder nur wenig getrunken habe. Dann ging’s mir viel besser und ich habe auch bessere Musik gemacht. Aber dann ist mir ­wieder langweilig und ich muss mir wieder einen geben. Dann denk ich: Ey, Golem, wie blöd bist du eigentlich? Aber in dem Moment höre ich mir nicht zu.

Jenny, wie typisch ist diese Ambivalenz, die Golem beschreibt, bei alkoholkranken Menschen?

Jenny: Total typisch. Wir wissen genau wie bei allen anderen Drogen, dass Alkohol nicht gut ist. Aber er hat einen Effekt, wir trinken ja nicht umsonst. Wäre das nur scheiße, dann würde das keiner anrühren. Es gibt auch tolle Momente und das Belohnungssystem im Gehirn wird angesprochen. Genau das macht diese Ambivalenz aus: ­Einerseits zu wissen, ich spiele scheiße Musik, am nächsten Tag geht’s mir schlecht. Aber in dem Moment finde ich es richtig gut.

Wie hast du es geschafft, aufzuhören?

Jenny: Das war ein Prozess. Ich habe zu der Zeit, in der ich selbst getrunken habe, in der Suchtberatung gearbeitet. Durch die Menschen, die ich da betreut habe, wusste ich genau, was mit mir los ist. Das war auch so ambi­valent. Ich konnte professionell auftreten und den Menschen die besten Sachen raten – an die ich mich selbst nicht gehalten habe. Ich wusste genau, was ich mir mit der Sauferei antue, aber bis vor fünf oder sechs Jahren konnte ich mir nicht vorstellen, aufzuhören.

Was hat sich dann geändert?

Jenny: Ich war alleinerziehend mit drei Kindern und morgens ständig verkatert. Da habe ich mich gefragt: Was machst du hier eigentlich? Ich hatte immer ein schlechtes Gewissen den Kindern gegenüber, ich habe mich geschämt. Und dann war ich auch noch in einer richtig beschissenen Beziehung und habe irgendwann gesagt: „Jetzt ist Schluss. Der Mann muss weg, der Alkohol muss weg, ich will das nicht mehr.“ Letztlich waren es dann viele kleine Momente, bis ich auf­gehört habe. Aber ich war in diesem Prozess drin, der immer weiterging, bis irgendwann endgültig Schluss war.

Golem, im vergangenen Jahr ist dein langjähriger Bandkollege, Mitbewohner und Freund Jörg gestorben. Er hatte sich bewusst für ein Leben mit Alkohol entschieden, mit all seinen Folgen.

Golem: Mehr als ein Jahr ist das jetzt schon her. Ich habe immer wieder den Krankenwagen geholt, weil Jörg umgekippt ist. Das war ihm aber scheißegal.

War sein Tod noch mal ein Auslöser, darüber nachzudenken, aufzuhören?

Golem: Nee, darüber denke ich sowieso die ganze Zeit nach. Momentan ist es ein bisschen schwierig, weil ich ­genervt bin. Zum Beispiel davon, wie es gerade so mit dem Jobcenter läuft. Das ist natürlich auch wieder eine Ausrede, aber so ist es. Ich habe keinen Bock mehr auf den Alkohol, trinke aber trotzdem zu viel Bier. Aber das krieg ich auch wieder hin. Sonst ­bekomm ich Ärger mit der Band …

Hast du in solchen Momenten Ratschläge?

Jenny: Ich finde es ganz schwierig, ­Ratschläge von außen zu erteilen. Wenn mich jemand anspricht und nach einem Tipp fragt, dann berichte ich gerne von meinen Erfahrungen. Aber jemandem von außen etwas überzustülpen, das funktioniert nach meiner Erfahrung sowieso nicht.

Golem: Ich denke auch, es müssen eher so Zufallsgespräche sein, bei ­denen der Groschen dann fällt.

Jenny: Das Beste, was ich machen kann, ist, darüber zu reden, wie ich ohne Alkohol lebe. Und dann gibt es vielleicht die einen oder anderen, die das hören und etwas für sich mitnehmen.

Golem: Ich muss sagen, ich habe unser Gespräch heute gar nicht so erwartet. Aber genau das bringt etwas. Da bleibt was hängen bei mir. Also wirklich. Das ist eine Sache, mit der ich jetzt ­arbeiten kann. Ab und zu mal drüber nachzudenken, was man da macht, ob es Alkohol, Nikotin oder sonst irgendwas ist, das kann nie schaden.

Jenny, gab es Mechanismen, die dir am Anfang geholfen haben?

Jenny: Bis so eine Gewohnheit weggeht, dauert das. Das wusste ich zum Glück. Das erste Mal Weihnachten, Silvester, die ersten Geburtstage, die ersten Konzerte. All das muss man erst mal ohne erlebt haben. Ich habe mir eine Online-Selbsthilfegruppe gesucht und mich dort mit Leuten ausgetauscht, die ein Stück weiter waren als ich. Das hat mir den Hintern gerettet. Die ersten Monate habe ich buch­stäblich ausgesessen. Ich saß nur frustriert auf der Couch. Aber ich wusste: Da muss ich durch.

Was hat sich in deinem Leben verändert, seit du nicht mehr trinkst?

Jenny: Ich kann mich wieder selbst im Spiegel anschauen. Ich habe jetzt ­einen Job, der mir riesigen Spaß macht. Ich habe jetzt einen Hund – morgens im Regen mit dem Hund raus, das ­hätte ich mir früher nie vorstellen können. Und ich habe wieder Spaß ­daran, etwas mit meinen Kindern zu machen, ich hänge am Wochenende nicht mehr verkatert in den Seilen. Im Bekanntenkreis habe ich viel ausgemistet. Ich treffe mich nicht mehr mit Leuten um des Trinkens willen, sondern weil es mir um den Menschen geht. Auch Konzerte sind super, ich bekomme wirklich die Bands mit. Und das Beste: Am nächsten Morgen erinnere ich mich noch. Und nach mehr als vier Jahren ohne Alkohol weiß ich: Natürlich geht es ohne, ­natürlich habe ich Spaß, natürlich ­gehöre ich noch dazu. Früher habe ich immer gedacht, alle würden saufen. Aber das ist gar nicht so.

Golem: Ich hab’ auch schon einige Punkrocker getroffen, von denen ich irgendwann erst erfahren habe, dass sie nicht trinken. Mit denen hab’ ich abgefeiert ohne Ende und die waren nüchtern genauso drauf, wie ich breit. Im Juni hatten wir mit meiner Band U.E.D.L nach zehn Jahren mal wieder einen Auftritt. Davor habe ich nur drei Bier getrunken, auf der Bühne hatten sie uns noch Bier hingestellt, das habe ich nicht angerührt. Der Auftritt war der Hammer. Abends kam ich dann nach Hause und war nicht völlig breit. Das war ein geiles Gefühl, mich ins Bett zu legen und einfach nur die ­Musik genossen zu haben.

Vielen Dank für das offene Gespräch!

Zu den Personen

Jenny Guttmann arbeitet für Natalie Stüben, die Coachingprogramme für Menschen anbietet, die aufhören wollen zu trinken. Infos unter: www. oamn.jetzt. Hinz&Künztler Golem lebt in einer WG im Hinz&Kunzt-Haus. Eindrücke von seiner Band gibt es hier: www.huklink.de/uedl

Artikel aus der Ausgabe:

Eins geht noch?

Laut einer Studie kann sich etwa jede:r Fünfte in Deutschland vorstellen, einen „trockenen Januar“ – einen „Dry January“ – einzulegen. Wir haben für Sie ohne moralischen Zeigefinger mit Suchtexperten und Menschen gesprochen, die mit und ohne Alkohol leben. Außerdem im Magazin: Warum unser Hunger auf Fisch im Senegal zum Problem wird.

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Autor:in
Lukas Gilbert
Lukas Gilbert
Studium der Politikwissenschaft in Hamburg und Leipzig. Seit 2019 bei Hinz&Kunzt. Zunächst als Volontär, seit September 2021 als Redakteur.

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