Zwei Straßensozialarbeiterinnen sollen die Not obdachloser Menschen in der Neustadt lindern. Ihre Möglichkeiten sind begrenzt.
Der Schnee fällt an diesem Dezembervormittag so dicht, dass Dorel eine Plastikplane über seinen Beinen ausgebreitet hat. An eine Hauswand gelehnt sitzt der Rumäne nahe des Gänsemarkts auf dem Bürgersteig und bettelt. „Ich bitte um eine kleine Spende für meine Familie und mich“, steht auf einem Stück Pappe geschrieben, das er in den Händen hält. Der Becher Kaffee, den ihm offenbar ein Vorbeigehender spendiert hat, ist fast leer getrunken, in einem zweiten Becher liegen ein paar kleine Münzen.
Lea Stöterau geht in die Hocke, um dem Mann auf Augenhöhe zu begegnen. „Bei dir alles okay? Ist es sehr kalt oder geht es noch?“, fragt die Sozialarbeiterin. Drei- bis viermal die Woche ist die 25-Jährige mit ihrer zwei Jahre älteren Kollegin Sarah Menn in der Neustadt unterwegs, um Menschen in Not Hilfe anzubieten. Quartiersbezogene Straßensozialarbeit nennt sich das und wird von der Stadt bezahlt. Seit August läuft das Modellprojekt des Bezirks Mitte und ist auf ein Jahr befristet. Kommenden Sommer wollen Politik und Verwaltung bewerten, was aus den Erfahrungen folgt.
Dorel spricht kein Deutsch und die Sozialarbeiterinnen kein Rumänisch. Um sich mit ihm zu verständigen, nutzen die beiden eine Übersetzungs-App auf ihrem Mobiltelefon. Er werde kurz vor den Feiertagen zu Frau und Kindern in die Heimat fahren, für einen Monat und mit dem Bus, erzählt der 49-Jährige. Er wolle dort auch wegen seiner Herzprobleme zum Arzt gehen. Und er sei sehr gläubig und nehme dankbar an, was Gott und die Menschen ihm geben.
„Pass auf dich auf!“, sagt Lea Stöterau zum Abschied. Die Sozialarbeiterinnen wissen aus einem anderen Gespräch, dass Dorel ein Hotelbett für wenig Geld gefunden hat. Sie wissen aber auch: Sie könnten ihm kaum etwas anbieten, wenn er keine Unterkunft hätte. Viele der Menschen, die die beiden auf der Straße treffen, stammen aus Ost- oder Südosteuropa – und bekommen, auch weil sie in Deutschland oft in die Schwarzarbeit gedrängt wurden, weder Bürgergeld noch ein Bett in einer Wohnunterkunft. Einzige Alternative zur Straße ist in den kalten Monaten ein Platz in einem Mehrbettzimmer des Winternotprogramms – ein Angebot, das viele ablehnen. Es ist ihnen zu voll in den Großunterkünften, sie haben Angst bestohlen zu werden, so die Sozialarbeiterinnen. Es mangle dort an „Sicherheit und Ruhe“.
Kommentar
Die Straßensozialarbeiterinnen in der Neustadt sind ein guter Anfang – mehr aber nicht. Denn die Hilfe, die sie leisten, kann nur so gut sein wie die Angebote, die sie machen können. Und da gibt es ein grundsätzliches Problem: Viele Menschen aus anderen Staaten der Europäischen Union, die hier auf der Straße landen, haben keine Chance auf eine Wohnung. Keine Chance auf eine Suchttherapie. Nicht mal die Chance auf ein Bett in einer städtischen Wohnunterkunft. Selbst wenn sie Jahre in Deutschland gearbeitet haben, bevor sie auf der Straße gelandet sind. Denn weil sie von ihren Arbeitgebern vielfach in die Schwarzarbeit gedrängt wurden, können sie gegenüber den Ämtern nicht nachweisen, dass sie etwa auf Baustellen oder in Schlachtfabriken geschuftet haben. Die Folge: kein Bürgergeld, keine Krankenversicherung. Helfen kann hier nur eine Gesetzesänderung, mindestens auf Bundes-, noch besser auf EU-Ebene. Das entlässt den Senat nicht aus seiner Verantwortung. Hamburg sollte mit gutem Beispiel vorangehen. Und das heißt: für alle obdachlosen Menschen in dieser Stadt passende Hilfsangebote schaffen. Damit das Ziel, Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis 2030 abzuschaffen, mehr ist als ein schöner Traum. ujo
„Mein Traum ist es, die Menschen ins Housing-First-Programm zu vermitteln“, sagt Sarah Menn. Doch ist dieser Wunsch in der Regel utopisch. Erstens gibt es nur 30 solcher Plätze für mindestens 2000 Obdachlose auf Hamburgs Straßen (siehe H&K April 2023). Und zweitens dürfen nur Menschen in eine der Wohnungen des städtischen Modellprojekts ziehen, die Anspruch auf Bürgergeld haben. „Die Leute, mit denen wir viel Beziehungsarbeit machen, haben null Anrecht auf Leistungen“, sagt Menn. Selbst das Angebot an Notschlafstellen sei in Hamburg „deprimierend“.
Kim hat sich in der U-Bahn-Station Gänsemarkt neben den Fahrkartenautomaten einen Platz zum Betteln gesucht. Eine dünne Decke soll ihn vor Kälte von unten schützen, der Schlafsack, in den er sich gehüllt hat, vor der Zugluft von den Seiten. Das größte Problem des Mannes in den Vierzigern mit wildem Bart: Er findet mit seinem Hund kein Dach über dem Kopf. Zwar hat das „Pik As“ nach Angaben des städtischen Unterkunftsbetreibers Fördern & Wohnen spezielle Plätze für Obdachlose mit Hunden. Doch einen solchen zu bekommen sei schwer: Neben dem Nachweis, dass der Hund geimpft ist und länger als ein Jahr im Besitz des Halters, verlangt die Stadt eine Haftpflichtversicherung für das Tier, berichten die Sozialarbeiterinnen. (Fördern & Wohnen erklärt dazu, jeder Fall werde „individuell“ entschieden.) Hat er Bürgergeld beantragt? Er sei dabei und bekomme bereits Hilfe, sagt Kim. Immerhin können die Sozialarbeiterinnen ihm einige Adressen nennen, bei denen er einen neuen Schlafsack bekommt; der Reißverschluss seines jetzigen ist kaputt. „Wir schauen mal, ob wir dir das nächste Mal einen mitbringen können“, sagen die beiden zum Abschied.
Ihr Einsatz ist das Ergebnis längerer Diskussionen: Anwohnende und Gewerbetreibende in der Neustadt klagen im Sommer 2021 über alkoholisierte Menschen, die auf dem Boden liegen und nicht ansprechbar scheinen. Über Lärm, Müll und Exkremente. Ende 2022 erreichen die Beschwerden die Bezirksversammlung. Die beschließt das Modellprojekt für „aufsuchende Arbeit für Menschen in besonders prekären Lebenslagen“. Das soll auch ermitteln, wer die Verelendeten sind und wie ihnen geholfen werden könnte.
Über eine Hotline können Anwohnende und Gewerbetreibende heute rund um den Michel die Helferinnen erreichen. „Das heißt aber nicht, dass wir Leute von der Haustür wegschieben. Das ist nicht unser Job!“, sagt Sarah Menn. Im Schnitt klingele das Telefon einmal pro Woche. Oft, sagt sie, rufen Bürger:innen an, die sich Sorgen machen um verelendete Menschen und nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen. Oder Kaufleute, die Probleme haben mit bettelnden Obdachlosen. Hier gehe es darum, Brücken zu bauen, sagt die Sozialarbeiterin. „Wir versuchen, ein guter Mediator zu sein, zu vermitteln.“ Klappt das, steht am Ende ein Kompromiss: etwa dass ein Bettler weiterhin seinen Lebensunterhalt vor dem Supermarkt verdienen kann, aber nur, wenn er Vorbeigehende nicht anspricht oder sich ihnen nicht in den Weg stellt.
Grundsätzliche Probleme können die Sozialarbeiterinnen nicht lösen. Zum Beispiel fehlen Hilfsangebote in der Neustadt, seitdem das Pik As wegen des Neubaus der Notunterkunft in die Eiffestraße umgezogen ist: „Es gibt hier nichts“, sagt Sarah Menn. „Keine Notschlafstelle, keine Tagesaufenthaltsstätte, kein Essensangebot, keine Kleiderkammer, keine Sozialberatung.“ Vor allem für psychisch kranke Obdachlose brauche es Anlaufstellen, fordert ihre Kollegin Lea Stöterau. „Wenn wir Glück haben, bekommen wir jemanden für eine Nacht in die Entgiftung. Das löst aber nicht das Problem.“
Selbst banale Verbesserungen wie eine öffentliche Toilette müssen immer wieder aufs Neue verhandelt werden. Weil ihm das zu blöd wurde, bestellte ein Anwohner vergangenen Sommer auf eigene Kosten ein Dixi-Klo für den Großneumarkt. Zwei Monate trug er die Kosten, dann wollte das Bezirksamt die gute Idee nicht weiterführen. Nun hat die Stadt mit dem Pächter der Eisdiele am Platz ausgehandelt, dass der seine Toilettentüren vorübergehend offen stehen lässt. Ende Januar soll damit jedoch Schluss sein. Und dann?
„Diese Frage stellen wir uns in der Stadtteilkonferenz auch“, sagt Sascha Bartz. Der Architekt arbeitet seit fast 20 Jahren als Quartiersmanager in der Neustadt. Er setze darauf, dass die Bezirksversammlung eine Verlängerung der Übergangslösung anschiebt. Die Arbeit der Sozialarbeiterinnen, sagt er, werde im Stadtteil „sehr gut angenommen“. Seine Hoffnung: „Dass das Projekt zeigt, dass wir ein Angebot für die Menschen schaffen müssen, die keinen Zugang zum Hilfesystem haben“.
Im Eingang der S-Bahn-Station Landungsbrücken sitzt nahe den Fahrkartenautomaten ein Mann auf dem Boden, neben ihm liegt ein junger Hund. Peyman hat ein Dach über dem Kopf, der 62-Jährige lebt, so erzählt er, gemeinsam mit seiner Frau und einem weiteren Hund in einem alten Wohnmobil. Gedanken macht er sich an diesem Vormittag vor allem über seinen vierbeinigen Begleiter. Die Tierarztsprechstunde, die die Sozialarbeiterinnen ihm beim letzten Gespräch empfohlen haben, hat er leider verpasst: Es sei ihm zu kalt gewesen, um draußen vor der Tür in einer langen Schlange zu warten. Nun sucht Peyman eine neue Möglichkeit, Impfung, Kastration und eine Wurmkur für den Hund zu organisieren. Die Frauen nennen ihm eine Adresse, zu der er am nächsten Wochenende gehen kann. „Gibt es sonst was Neues?“, fragt Lea Stöterau. „Nein, kein Neues“, sagt der gebürtige Aserbaidschaner. „Alles bleibt, wie es ist.“ Zum Abschied hebt er den Arm und winkt. Das Gespräch hat ihm sichtlich gutgetan.