Hinz&Künztler Nickolas wurde im Schlaf in der Hamburger Innenstadt überfallen und verprügelt. Er ist einer von vielen: In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der Angriffe auf Obdachlose in Deutschland mehr als verdreifacht.
Nickolas schreckt im Schlaf hoch, ein Tritt trifft ihn an der Seite. Reflexhaft reißt der Obdachlose einen Arm hoch, hält ihn schützend über den Kopf und versucht, mit der anderen Hand seinen Schlafsack zu öffnen. Zu spät. Ein Fuß trifft ihn mit voller Wucht in der Seite. Seine Peiniger lachen, machen Witze. Wieder ein Tritt. Noch einer. Es hört nicht auf. Nickolas krümmt sich zusammen und reißt den Schlafsack halb auf. Ein gefundenes Fressen für die Angreifer. Sie reißen ihm die Schuhe von den Füßen, schnappen seinen Rucksack und rennen lachend und johlend davon.
Als die Stimmen endlich verklungen sind, richtet sich Nickolas langsam auf. „Mir tat alles weh“, erinnert sich der Hinz&Kunzt-Verkäufer. Mitten in der Nacht habe er sich auf Socken von seinem Schlafplatz bei „Saturn“ in der Mönckebergstraße bis zur Bahnhofsmission am Hauptbahnhof geschleppt. Dort erhielt er Schuhe. „Dann bin ich weiter zum AK St. Georg.“
Stunden später wird er entlassen. Die Diagnose: zwei gebrochene Rippen, zahlreiche Prellungen und eine große Portion Glück, dass die Lunge nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde. Ein Krankenpfleger gibt ihm noch eine Hand voll Schmerzmittel mit auf den Weg, dann geht es zurück auf die Straße. Die Sonne scheint.
Nickolas muss erst einmal verarbeiten, was ihm widerfahren ist. Statt zu den Schmerzmitteln zu greifen, stolpert er in den nächstbesten Kiosk. „Da habe ich mir eine ordentliche Flasche Wodka gegönnt“, sagt Nickolas und schmunzelt gequält.
Passiert ist das alles am 31. Juli. Es war ein Monat zum Abgewöhnen. Seit Tagen regnete es ununterbrochen. Nicht nur das Wacken-Festival versank im Matsch, sondern auch Nickolas’ Schlafplatz an der Elbe. „Ich wusste nicht mehr wohin und hatte seit drei Tagen nicht geschlafen“, erinnert sich der Obdachlose. Hungrig wartete er an dem Abend vor dem Überfall vor Saturn in der Mönckebergstraße auf den Mitternachtsbus. Als der 1,85 Meter große und kräftig gebaute Mann endlich an der Reihe war, verschlang er eilig sein Sandwich. Doch mit der Sättigung kroch die Müdigkeit in die Knochen. Völlig erschöpft suchte er Schutz in einer Ecke hinter dem Elektromarkt und packte Isomatte und „Penntüte“ aus. So schnell wie in dieser Nacht sei er selten eingeschlafen, sagt Nickolas.
Aus Angst vor Angriffen, aber auch vor Diebstählen, übernachten Menschen auf der Straße selten allein. Zahlen des Bundeskriminalamts (BKA) zeigen einen erschreckenden Anstieg der Gewalt gegen Obdachlose. Von 258 bundesweit registrierten Fällen im Jahr 2012 auf 881 Fälle im vergangenen Jahr. Auch in Hamburg wächst die Gewalt, wenn auch längst nicht so dramatisch. Gab es vor zehn Jahren noch 60 Gewaltdelikte gegen Obdachlose, waren es 2017 bereits 70 und im vergangenen Jahr 83.
Doch das sind nur die Fälle, von denen die Polizei erfuhr: Der nächtliche Überfall auf Nickolas wird in keiner Statistik auftauchen. Es wäre sinnlos gewesen, zur Polizei zu gehen, sagt der Obdachlose. „Da waren keine Kameras. Nix.“ Weil er schützend die Arme über Gesicht und Kopf hielt, könne er auch kaum Angaben zu den drei Tätern machen. „Die waren betrunken, haben einfach reingetreten und Witze gemacht“, erzählt Nickolas angewidert. „Dass die einem Obdachlosen die Schuhe klauen, geht mir einfach nicht in den Kopf.“ Über seinen geklauten Rucksack sagt er: „Da war so ziemlich mein ganzes Leben drinnen.“
Während Gewalttaten gegen Obdachlose seit zehn Jahren statistisch erfasst werden, gibt es zu Diebstählen wie dem oben genannten keinerlei Datenmaterial. Unbekannt ist auch, wie viele Gewaltdelikte aufgeklärt werden und wer diese überhaupt anzeigt. Sozialarbeiter:innen gehen davon aus, dass es deutlich mehr Gewalttaten in Hamburg geben dürfte als die zuletzt registrierten 83 Fälle. Oftmals gebe es auch Gewalt unter Obdachlosen, die in der Regel niemand wahrnehme. „In Gesprächen mit Obdachlosen fällt manchmal nur im Nebensatz die Bemerkung, dass sie kürzlich verprügelt wurden“, sagt Frieda Mauruschat von der Beratungsstelle für Obdachlose in Barmbek. „Gewalt ist für sie so sehr in den Alltag eingebettet, dass sie es nicht mehr für erwähnenswert halten, wenn sie überfallen werden.“ Wie gefährlich das Leben auf der Straße ist, zeigt hingegen eine Medienanalyse der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Demnach kamen seit Beginn der Erhebung 1989 im Schnitt jedes Jahr rund 20 Menschen auf der Straße durch Gewalt zu Tode.
Aus Angst vor Überfällen habe er „damals“ auf der Straße einen leichten Schlaf gehabt, erinnert sich Nickolas. Wie er das erzählt, klingt es wie eine lang zurückliegende Geschichte. Dabei schläft er erst seit wenigen Wochen tief und fest. Nach fünf Jahren auf der Straße hat Nickolas vergangenen Monat eines der begehrten WG-Zimmer im Hinz&Kunzt-Haus erhalten.