Hinz&Kunzt hat einen Verkäuferrat – eine von den Verkaufenden des Straßenmagazins gewählte Interessenvertretung. Annette Woywode hat mit einigen Mitgliedern darüber gesprochen, warum ihnen Hinz&Kunzt wichtig ist und was sie für ihre Kolleg:innen bewegen wollen.
Hinz&Kunzt-Vertriebsmitarbeiter Gabor schwenkt einen kleinen weißen Zettel und lacht. „Schaut mal her“, sagt er. „Wir hatten schon die erste Post im Briefkasten!“ Acht Hinz&Kunzt-Verkäufer:innen sitzen mit Gabor zusammen am Besprechungstisch, nun sichtlich neugierig, was auf dem Zettel steht. Denn das Papier im Briefkasten ist ein kleiner Erfolg.
Vor zwei Monaten traf sich die Gruppe zum ersten Mal als „Verkäuferrat“: ein neues, von den Hinz&Kunzt-Verkaufenden gewähltes Gremium, das wie eine Interessenvertretung funktioniert. Eine der ersten Ideen war der Briefkasten im Vertriebsraum, in den Hinz&Künztler:innen Beschwerden, Ideen, Kritik und Anregungen einwerfen können. Die werden im Rat diskutiert und die Ergebnisse zurückgemeldet. Ratsmitglied Marcel ist überzeugt: „Wir finden gute Lösungen für alle!“
Alle: Das sind immerhin rund 500 aktive Verkäufer:innen monatlich – aus 37 Nationen, mit ihren unterschiedlichen Sprachen, Kulturen und Problemen. Und so setzt sich auch der Verkäuferrat aus Menschen unterschiedlicher Herkunft und mit diversen Schicksalen zusammen.
Da ist zum Beispiel Achim, 60, den seine Suchterkrankung vor 23 Jahren zu Hinz&Kunzt führte. Jahrelang lebte er zunächst bei Bekannten und schließlich in unterschiedlichen städtischen Unterkünften – „da kenne ich halb Hamburg.“
Da ist Robert, 54, der im Jahr 2000 aus Polen nach Hamburg zog und hier bei seinem Opa lebte. Nach dessen Tod landete Robert auf der Straße. Jahrelang machte er Platte – am Bismarckdenkmal, dann bei den Landungsbrücken – und hat gebettelt. Ein Kumpel brachte ihn vor etwas mehr als einem Jahr zu Hinz&Kunzt.
Da ist Yasmin, 50, die mit 38 Jahren wegen ihrer psychischen Erkrankung verrentet wurde. Nach einer zerbrochenen Beziehung lebte sie im Frauenhaus, im Frauenwohnheim und im Containerdorf. Seit acht Jahren hat sie eine Wohnung in Eilbek.
Auch Marcel, 55, wurde in den Verkäuferrat gewählt. Der Rumäne hat für einen Sicherheitsdienst in Spanien gearbeitet – „von Baustelle bis VIP“. In seinem ersten Urlaub nach 16 Jahren besuchte er seine Schwester in Deutschland und blieb. Seit einem schweren Arbeitsunfall kann er nicht mehr arbeiten. Doch die Versicherung zahlte nicht und rentenversichert war Marcel nie. Nach der Trennung von seiner Freundin blieb ihm nur die Übernachtung in Notunterkünften. Im Dezember 2020 kam er zum Straßenmagazin, ein Jahr später zog er in eine WG im Hinz&Kunzt-Haus.
Und Alexandra, 35, die mit 16 in Rumänien ihr erstes Kind bekam. 2014 ging die gesamte Familie nach Hamburg, wo sie zu siebt in einem 12-Quadratmeter-Zimmer lebten, doch Arbeit fanden sie nicht. Seit 2016 ist sie beim Straßenmagazin. „Als ich zu Hinz&Kunzt gekommen bin, hatte ich nur Fragezeichen in meinem Kopf“, sagt Alexandra. „Hier bin ich groß geworden.“
Oder Lothar, 64, der jahrelang zur See gefahren ist, aber nie rentenversichert war. Nachdem seine Ehe gescheitert war und er wegen gesundheitlicher Probleme in seinem Beruf nicht mehr arbeiten konnte, begann „mein stufenweiser Abstieg“, wie er es ausdrückt.
Auch schon vor der Gründung des Verkäuferrats gab es in unregelmäßigen Abständen Sitzungen mit Hinz&Künztler:innen. „Dabei habe ich erst gemerkt, dass andere dieselben Probleme hatten wie ich“, erinnert sich Yasmin. Trotzdem haben die Treffen sie nicht überzeugt: „Da ging es irgendwie nie um alle, sondern mehr um den Einzelnen. Das war mehr Seelsorge.“ Die Aufgabe des Verkäuferrats ist es dagegen, Themen zu diskutieren, die für alle Hinz&Künztler:innen wichtig sind.
Was viele Hinz&Kunzt-Verkaufende umtreibt, ist zum Beispiel die Frage, wie der Umgang mit Menschen gelingen kann, die ohne Verkaufserlaubnis das Straßenmagazin anbieten. Die sich nicht an die Verkaufsregeln halten und damit dem Ansehen des gesamten Projekts schaden. Über Vertriebsmitarbeiter Gabor, der bei allen Sitzungen dabei ist, werden die Themen dann auch wieder ins Gesamtteam von Hinz&Kunzt getragen. Außerdem lädt der Verkäuferrat künftig regelmäßig Abteilungen wie Geschäftsführung, Vertrieb oder Redaktion zu den Sitzungen ein, damit diese ihre Arbeitsweise und Entscheidungen erklären – und um gemeinsam darüber zu diskutieren.
Heute zum Beispiel steht ein Vertriebsthema auf der Tagesordnung: Wie sollen neue Verkaufswesten aussehen? Soll der Vorname der Verkaufenden auf der Weste stehen? Yasmin ist dagegen, weil sie ihre Verkaufsweste manchmal auch nach Feierabend trägt und nicht möchte, dass jede:r ihren Namen kennt. Achim findet: „Die Leute sollen kommen und uns ansprechen. Uns nach dem Namen zu fragen, ist doch wichtig für den Kontakt!“ Lothar hingegen glaubt: „Die Kundschaft traut sich oft nicht, uns nach dem Namen zu fragen. Der Vorname auf der Weste würde Nähe schaffen.“ Was im Rat diskutiert wird, fließt am Ende in die Entscheidung des Vertriebs ein. Die Ratsmitglieder wiederum, die von immerhin rund 200 aktiven Hinz&Künztler:innen in geheimer Wahl als ihre Vertretung bestimmt wurden, erläutern ihren Kolleg:innen die Ergebnisse.
„Ich treffe alle Leute, und ich spreche mit allen: mit Deutschen, Polen, Rumänen …“, sagt Marcel. „Hinz&Kunzt ist eine Gruppe. Da darfst du nicht nur gut Freund mit ein paar Leuten sein, sondern du musst mit allen gut sein!“ So halten es auch die anderen Ratsmitglieder. Künftig wollen sie auch monatliche persönliche Sprechstunden anbieten. „Wir sind wie ein Zwischenstopp“, sagt Yasmin, bevor jemand mit einem Problem ins Vertriebsbüro muss oder in die Sozialarbeit. Praktisch, dass die acht Mitglieder insgesamt acht Sprachen sprechen: Deutsch, Englisch, Polnisch, Rumänisch, Ungarisch, Spanisch, Italienisch und Romani. Praktisch ist das auch bei der Post im Briefkasten: „Die Verkäufer können uns auf ihrer eigenen Sprache schreiben“, sagt Robert. „Wir können dann übersetzen.“
Beim ersten Zettel, der im Briefkasten landete, war keine Übersetzung nötig. Die Frage darauf lautete: „Warum müssen wir in der Mittagspause draußen stehen, auch wenn es regnet, und dürfen nicht reinkommen?“ Achim meint, die Verkäufer:innen müssten ihren Tag besser planen, damit sie gar nicht erst in der Mittagspause bei Hinz&Kunzt ankommen. Yasmin findet, das Hinz&Kunzt-Team brauche diese eine Stunde Mittagspause, um in Ruhe essen zu können. Lothar pflichtet bei, es werde zu laut, wenn Verkäufer:innen auch in der Mittagspause reindürfen. Er gibt aber zu bedenken: „Menschen mit einer Behinderung können den Tag oft nicht gut planen.“ Kommen sie zu früh oder zu spät, müssen sie womöglich draußen im Regen warten. Dem pflichtet Alexandra bei. Die gute Lösung für alle: Ein Aushang mit Tipps, wo sich die Mittagspause in der Nähe gut und kostenlos überbrücken lässt. Und mobile Pavillons vor der Tür, die regelmäßiger als bisher bei Schietwetter Schutz bieten. So wird’s gemacht.