Greta Schabram hat den Zusammenhang von Armut und digitaler Teilhabe untersucht. Im Interview erklärt die Sozialwissenschaftlerin, wie die Digitalisierung Ungleichheit verstärkt – und macht Vorschläge für eine gerechtere Zukunft.
Hinz&Kunzt: Die Coronapandemie hat als Digitalisierungsbeschleuniger gewirkt. Ist das ein Grund zur Freude?
Greta Schabram: Corona hat das digitale Leben quasi über Nacht aufgewertet und in vielen Bereichen auch notwendig gemacht. In der Politik hat Corona mit Sicherheit den nötigen Anschub gegeben, Digitalisierung als Thema endlich ernst zu nehmen und voranzutreiben. Es gibt Menschen, die damit umzugehen wissen und vielleicht auch schon vorher fit waren. Die konnten schnell umswitchen und die Vorteile genießen. Es gibt aber auch Menschen, die kaum einen Zugang zu digitalen Angeboten haben. Die waren plötzlich damit konfrontiert, dass Wege, die vorher noch analog möglich waren, zunehmend durch digitale Wege ersetzt wurden. Insgesamt hat sich die Ungleichheit verstärkt.
Ein Internetanschluss, Computer und Smartphone sind mittlerweile aber doch Standard in Deutschland, oder?
Wir haben herausgefunden, dass rund 21 Prozent der Menschen, die in Armut leben, zu Hause über keinen Internetanschluss verfügen. Bei Menschen, die nicht arm sind, waren es nur 9 Prozent. An diesen Zahlen sieht man, dass Armut schlechtere Zugangsvoraussetzungen im Digitalen bedeutet. Das Internet ist inzwischen das zentrale Informationsmedium in vielen Lebensbereichen, etwa bei Wohnungsanzeigen oder Informationen über staatliche Angebote. Wenn ein unkomplizierter Internetzugang zu Hause fehlt, bleiben nur große Umwege über Sozialberatungsstellen oder über Orte des freien Internetzugangs.
Was muss politisch passieren, um für gleiche Zugangsvoraussetzungen zu sorgen?
Die Regelsätze sollten die Kosten digitaler Hardware und eines Internetzugangs realitätsgetreu abbilden. Und die Anschaffung notwendiger technischer Geräte muss Hilfebeziehenden über einmalige Leistungen ermöglicht werden. Aber auch laufende Verbrauchsausgaben, Reparaturen und Ähnliches, gehören berücksichtigt. Es muss einen gleichen, flächendeckenden Zugang zum Internet für alle geben. Das muss der Staat, das müssen wir als Gesellschaft sicherstellen.
Mit dem Zugang allein ist es aber doch nicht getan. Viele Menschen wissen schließlich gar nicht, wie sie sich im Internet zurechtfinden sollen.
Das stimmt! Das Know-how ist wahrscheinlich noch wichtiger als die Hardware. Sozialberatungsstellen berichten von einem extremen Zuwachs an Menschen, die kommen, weil sie Programme nicht bedienen können, weil sie ihre E-Mail-Adresse nicht kennen, weil sie nicht zwischenspeichern können, weil sie viele digitale Anträge nicht bewerkstelligen können. Da gibt es viele Probleme, sodass in den Sozialberatungsstellen ein neuer Bedarf an Digitalberatung entstanden ist.
Nein, dafür sind sie weder personell noch fachlich ausgerüstet. Wir brauchen also nicht nur mehr Personal in den Beratungsstellen, sondern auch eine entsprechende Ausbildung und die technische Ausstattung. Wir brauchen außerdem kostenfreie Angebote der Weiterbildung. Wenn der Staat verlangt, dass Anträge digital ausgefüllt werden müssen, dann muss er auch sicherstellen, dass alle die Möglichkeiten und Fähigkeiten dazu haben. All diesen Dingen hinken wir momentan so hinterher, wie wir lange auch der Digitalisierung hinterhergehinkt sind.
Andererseits bietet Digitalisierung auch neue Chancen. Ich denke an Arzttermine, die ich von zu Hause aus buchen kann, an Nahverkehrsapps oder Online-Bürgerbeteiligungen.
Das große Versprechen von Internet und Digitalisierung war immer das einer Demokratisierung. Dieses Versprechen wurde aber nur sehr unzureichend eingelöst. Denn viele vergessen den Anteil an Personen, die wegen ihres Alters oder wegen Armut komplett abgehängt sind und nicht teilhaben können. Für diese Menschen ist die Digitalisierung ein Hindernis und eben keine Befreiung oder Partizipation.
In den Jobcentern sind Termine häufig nur noch nach telefonischer oder digitaler Buchung zu bekommen.
Ich warne sehr stark davor, den Zugang zu einer Behörde von einem Zugang zum Digitalen abhängig zu machen. Während Corona waren in Berlin die Schwimmbäder nur zu besuchen, wenn man zuvor online ein Ticket gebucht hat. Ich kann aus eigener Beobachtung sagen: Die soziale Zusammensetzung war eine fundamental andere. Der gut gestellte Mittelstand buchte sich Tickets, alle anderen standen vor dem Eingang und wussten nichts davon, dass sie nur digital reinkommen. Das Gleiche erwarte ich bei Ämtern, die ihren Zugang an Online-Terminvergaben knüpfen. Diese Art von Digitalisierung blendet die Lebenslagen prekär lebender Menschen massiv aus, so verlieren wir sie. Insbesondere bei Einrichtungen, die sich an Hilfsbedürftige richten, kann das nicht der richtige Weg sein.
Sie zeigen in Ihrer Studie, dass Menschen mit wenig Einkommen auch im Beruf deutlich seltener mit Laptops oder Smartphones arbeiten.
Je nachdem welchen Beruf man ausübt, erlernt man digitale Fertigkeiten automatisch. Wenn ich mich als Beispiel nehme: Ich arbeite zu 90 Prozent am PC, ich habe Fort- und Weiterbildungen, ich werde in Slack (eine Online-Kommunikationsplattform, Anm. d. Red.) fit gemacht, dieses Interview führen wir als Videocall. Dass ich mich in diesen Bereichen sicher bewege, liegt im natürlichen Interesse meines Arbeitgebers. Diese Fertigkeiten, die ich im Beruf erlerne, trage ich in mein Privatleben, und das macht mich fit für digitale Prozesse gesellschaftlicher Art in jeder Hinsicht. Menschen, die solche Fähigkeiten in ihrem Job nicht erlernen, bleiben auch da zurück. Deshalb ist der Beruf ebenfalls ein Treiber von digitaler Ungleichheit.
Mit welchen Angeboten lassen sich diese Menschen digital mitnehmen?
Kostenfreie Weiterbildungsangebote wären ein wichtiger erster Schritt, denn bislang sind diese oft mit finanziellem Aufwand verknüpft. Andererseits ist es aber auch wichtig, die Unterschiede anzuerkennen und auch weiterhin analoge Wege zu ermöglichen. Denn es ist ja okay, dass viele Menschen von der Digitalisierung profitieren – solange wir anderen Menschen das Leben nicht erschweren.
Wie sollten Weiterbildungsangebote konkret aussehen?
Wir müssen gezielt schauen, wo etwa Alleinerziehende die Möglichkeit haben, mal eben noch mitzulernen oder Unterstützung zu bekommen. Vielleicht ist die Kita in dem Fall der richtige Ort. Wir müssen die Menschen möglichst dort erreichen, wo sie schon sind.
Wie stellen Sie sich eine Zukunft vor, in der digitale und nicht digitale Angebote sinnvoll verzahnt sind?
Meine Vision sind offene Bürgerämter und Sozialberatungsstellen, in denen vor allem Zeit da ist. Wo die Menschen Zeit haben zu erklären, woran es bei ihnen hapert, und die Mitarbeiter:innen Zeit haben, das Problem zu verstehen. In dem Moment, wo Jobcenter wegen fehlenden Personals unter Druck sind, werden sie auch nicht die Zeit haben, sich mit Menschen, die beispielsweise Sprachprobleme haben, hinzusetzen. Doch genau hier müssen wir die Zeit investieren. Was wir außerdem brauchen: einen direkten Support in den Bürger- und Sozialämtern. Der digitale Antrag kann zwar vorherrschend sein, man muss Menschen aber einen einfachen, analogen Zugang ermöglichen. Darüber hinaus sollte vor Ort eine digitale Infrastruktur mit entsprechender Betreuung angeboten werden, sodass alle Menschen die Möglichkeiten haben, einen digitalen Antrag auszufüllen.