Theaterprojekt

„Sie wollen es nicht bequem haben“

Konzentriertes Spiel mit ernstem Hintergrund: Lehrer Hedi Bouden (hinten) verlangt viel, steckt aber auch selbst viel Energie in die Theaterarbeit mit den Schüler:innen. Foto: Dmitrij Leltschuk

Ein Wilhelmsburger Lehrer verhandelt die Themen Shoa und interreligiöser Dialog mit seinen Schüler:innen auf der Theaterbühne. Dort verschmelzen Schauspiel und eigene Betroffenheit.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Ein Nachmittag im Helmut-Schmidt-Gymnasium in Wilhelmsburg. Im Bühnenraum der Schule probt die Theater AG unter der Leitung von Hedi Bouden. Die ganz in Schwarz gekleideten Schüler:innen sitzen auf ihren Positionen, während sich um sie herum Einzelne erheben und selbst erarbeitete Texte rezitieren, untermalt von Klaviermusik. Christiana Yogvop aus dem 11. Jahrgang ist an der Reihe. Mit konzentriertem Blick und klarer, fester Stimme trägt sie ihre Zeilen vor: „Acht-Stunden-Tour durch Auschwitz. Am Anfang wollte ich mehr wissen. Aber nach acht Stunden, nach acht Stunden war ich müde. Ich war müde. Und dann habe ich mich gefragt: ,Woher nehme ich mir das Recht, müde zu sein?‘“ Dann baut sich Rajoua Mamadou aus der 10. Klasse auf der Bühne auf und spricht in gekonnt verächtlichem Ton: „Keine fünf Minuten sind wir in Auschwitz unterwegs, da sehen wir eine Schulklasse mit ihrem Lehrer, wie sie grinsend, mit Daumen nach oben, vor dem Schild ‚Arbeit macht frei‘ posieren. Ein Lehrer! Vorbildfunktion, nicht wahr?“ Ihre letzten Worte klingen wie ausgespuckt. Ihr Lehrer, Hedi Bouden, nickt ihr anerkennend zu.

Die Schüler:innen verarbeiten hier eine Projektreise nach Auschwitz, an der sie im Frühjahr teilgenommen haben. Die Initiative zu der Fahrt sei von ihnen selbst ausgegangen, erzählt ­Hedi Bouden. Da sie sich in seinen Projekten schon länger mit deutscher Erinnerungskultur auseinandergesetzt hätten, sei der Wunsch entstanden, den Ort zu besuchen, der wie kein anderer für die Schrecken des Holocaust stehe. Dass die meisten von ihnen keinen biografischen Bezug zur deutschen Geschichte haben, spiele keine Rolle: „Ich finde diesen Schritt wichtig für uns als Menschen, die in Deutschland mit der Tätersprache und mit der Geschichte dieses Landes groß werden. In dem Moment, in dem man sich damit auseinandersetzt, entwickelt man einen Bezug dazu.“

Rückblick: Ein kalter Februartag im polnischen Oświęcim. Hedi Bouden und zwölf seiner Schüler:innen stehen auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz. Sie haben eine mehrstündige Führung hinter sich und wirken erschöpft, lauschen aber konzentriert dem Vortrag der Museumspädagogin. Niemand aus der Gruppe schaut auf sein Smart­phone oder wirkt abgelenkt. Keine Selbstverständlichkeit an diesem Ort, an dem sich an diesem Tag unzählige Reisegruppen drängen, darunter viele gelangweilt wirkende Jugendliche, die auf ihre Handys starren. Ob alle noch können, will Hedi Bouden von seiner Gruppe wissen. Ihr sei kalt und die Füße täten weh, sagt Solina Halimi aus der 10. Klasse kleinlaut. Aber sie wolle sich nicht beschweren. Die anderen stimmen ihr zu. „Wir sind freiwillig hier und können jederzeit eine Pause einlegen“, sagt Rajoua.

Ähnliche Situationen gibt es an diesem Tag immer wieder. Hedi Bouden hat die große Tour durch Auschwitz-Birkenau gebucht, ein Rundgang, für den sich laut Reiseführerin viele Gruppen zwei Tage Zeit nehmen. Die Jugendlichen aus Wilhelmsburg ziehen es an einem Tag durch. „Sie wollten es selbst so“, erklärt Hedi Bouden. „Sie wollten es nicht bequem haben, sondern mit dem größtmöglichen Ernst und Engagement an diese Sache ran­gehen.“ Denn seine „Kids“, wie er sie nennt, spürten sich in Auschwitz wie so oft in ihrem Leben unter doppelter Beobachtung: Als Jugendliche mit Migrationsgeschichte, überwiegend muslimisch geprägt, die sich gleichzeitig als Deutsche definieren. Hedi Bouden tut was er kann, um sie zu entlasten. Immer wieder muss er Teil­nehmer:innen trösten, die emotional überfordert sind. Saachi Khattar aus dem 11. Jahrgang etwa, deren
Eltern zur indischen Religionsgemeinschaft der Sikh gehören, gegen die es mehrfach in der Geschichte zu Pogromen kam, bricht in Tränen aus, als es zu den ausgestellten Haaren der Opfer geht. In ihrer Religion seien Haare heilig, erzählt sie später. Der Gedanke, dass den Menschen in Auschwitz die Haare geschoren wurden und diese bis heute nicht mit begraben seien, sei für sie unerträglich.

Solche Reaktionen erlebe er in seinen Projekten oft, erzählt Hedi Bouden. Die Auseinandersetzung mit der Shoah, mit der deutschen Schuld, sei für junge Menschen mit Einwanderungsgeschichte ein komplexes Thema. Wenn die eigene Zugehörigkeit zu Deutschland immer wieder in Frage gestellt werde, sei es für diese Jugendlichen schwierig zu verstehen, was die deutsche Geschichte mit ihnen zu tun habe. Einerseits. Andererseits kommen viele von ihnen aus Familien, die in ihren Herkunftsländern selbst aus ethnischen Gründen verfolgt und bedroht worden sind. Für Jugendliche, die von solchen Traumata geprägt sind, habe das Grauen, mit dem sie in Auschwitz konfrontiert wurden, noch mal ein ganz eigenes Gewicht.

Das Helmut-Schmidt-Gymnasium ist das einzige Gymnasium auf der Hamburger Elbinsel mit einer entsprechend diversen Schüler:innen­schaft. Auch deshalb hat Bouden sich die Schule ausgesucht. Der heute 40 Jahre alte Lehrer wurde selbst als Sohn eines tunesischen Gast­arbeiter:innenpaares geboren und weiß, wie es sich anfühlt, aufgrund der Herkunft ausgegrenzt und unterschätzt zu werden. Manche Lehrer:innen hätten ihm einreden wollen, dass ein Studium nichts für ihn sei, erinnert er sich. Er aber wolle alles dafür tun, seine Schüler:innen zu selbstbewussten und reflektierten jungen Menschen zu erziehen.

Befragt man die Schüler:innen zu ihm, schaut man in leuchtende Augen. Sie habe noch nie einen so engagierten und hilfsbereiten Lehrer erlebt, sagt Saachi Khattar, die ihn in der 8. Klasse erstmals im Unterricht hatte und in der Oberstufe auch deshalb bei ihm im Theaterprofil gelandet ist, weil er sie menschlich so beeindruckte. Herr Bouden sei anders als andere Lehrer, sagt auch Christiana Yogvop: „Er interessiert sich für die persönliche Geschichte jedes Einzelnen, er will wissen, wer man ist und was einen beschäftigt und gibt uns das Gefühl, dass wir mit jedem Problem zu ihm können. Er verlangt uns viel ab, aber steckt auch wahnsinnig viel Energie in alles.“

Einen Großteil seiner Energie steckt Hedi Bouden seit einigen Jahren in groß angelegte Theaterprojekte, mit denen er Schüler:innen politisches Denken nahebringen und Vorurteile bekämpfen will. „Im Kern geht es immer um die Frage, was ‚Deutschsein‘ bedeutet, vor allem für Jugendliche, denen das Deutschsein aufgrund ihrer Herkunft, ihres Aussehens oder ihres ­Namens abgesprochen wird“, erklärt er. Angefangen hat alles im Frühjahr 2017 mit dem Theaterstück „Kein Deutscher Land“, das die Radikalisierung von drei unterschiedlichen Jugendlichen beschrieb. Das Stück löste einen Diskurs im Stadtteil aus und bildete den Rahmen für Gesprächsrunden, Workshops und Podiumsdiskussionen. Es gab diverse Preise und viel Anerkennung. 2018 wurden Bouden und seine Gruppe mit dem Stück sogar nach Israel eingeladen. Dort besuchten sie die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem und arbeiteten mit israelischen Jugendlichen zusammen. So entstanden die Folgeprojekte „Why Should I care about your History?“ / „Was geht mich deine Geschichte an?“ und „Where Does the Hate Come From?“ / „Wo kommt der Hass her?“.

Mehrere Projektreisen nach Israel sowie Workshops mit israelischen und arabischen Jugendlichen in Wilhelmsburg hat Hedi Bouden in der Zwischenzeit organisiert. In einem Dokumentarfilm, der bei diesen Treffen entstand, sieht man, wie Jugendliche aus Wilhelmsburg mit israelischen Jugendlichen aneinandergeraten, wie Misstrauen innerhalb der Gruppe entsteht, wie es zu Streit mit ihrem Lehrer kommt – und zur anschließenden Aussöhnung auf der Bühne.

t und aus Bewunderung für ihren früheren Lehrer trotzdem weiter bei seinen Workshops mitmacht, war als Schülerin mit auf einer der Israelreisen. Anfangs sei sie unsicher gewesen, wie die Jüdinnen und Juden dort wohl auf ihr Kopftuch reagieren würden. „Man hat schon gemerkt, dass manche von uns verwirrt waren“, erinnert sie sich, „aber gerade um Vorurteile abbauen ­zu können, brauchen wir ja solche Begegnungen.“

Duygu, die am Rande der Theaterproben an ihrer alten Schule bisweilen für die Uni büffelt, war auch in Auschwitz dabei und steht an diesem Nachmittag wieder mit auf der Bühne. Die Aufarbeitung der Reise ist Teil eines neuen Theaterprojekts mit dem Titel „Architecture of Hope“, das Hedi Boudens Gruppe noch das ganze Jahr ­beschäftigen wird. Im September kommen wieder Jugendliche aus ­Israel zu Besuch, es sind Workshops, Performances im öffentlichen Raum und ­eine Theateraufführung geplant. Im Grunde gehe es bei all diesen Projekten um den Perspektivwechsel, ­darum, sich in Menschen hineinzuversetzen, die eine andere Geschichte haben und an andere Dinge glauben als man selbst, erklärt der Theater­lehrer. Durch die Vielfalt der Perspektiven, die es in Wilhelmsburg gebe, sei der Stadtteil ideal für diese Art von Austausch.

Artikel aus der Ausgabe:

„Wir wollen arbeiten“

Alle reden vom Fachkräftemangel, dabei sind viele potenzielle Fachkräfte schon in Deutschland, scheitern aber an den Hürden der Bürokratie. Wir haben mit einigen von ihnen gesprochen. Außerdem: Hamburg feiert den CSD. Im Interview spricht Michael Rädel, Herausgeber der queeren Zeitschrift „hinnerk“ über das Thema Sichtbarkeit. Und: Ein Wilhelmsburger Lehrer verhandelt mit seinen Schüler:innen Themen wie interkulturelle Verständigung oder die Shoa auf der Theaterbühne.

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Autor:in
Yasemin Ergin
freie Journalistin

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