Sind die aus der Innenstadt vertriebenen Bettler:innen aggressiv oder behindern den Verkehr? Das könnte die Platzverweise der Polizei rechtfertigen. Doch die Realität sieht anders aus.
Aggressiv ist er nicht. Und dass er die Wege anderer Menschen versperrt, lässt sich ebenfalls nicht erkennen: Still sitzt Daniel an diesem Mittwochmorgen Anfang Mai am Rand des Bürgersteigs auf seinem Rucksack vor einem Supermarkt in der Langen Reihe in St. Georg. Vor dem 36-Jährigen steht ein kleiner gelber Plastikbecher, darin ein paar Münzen. Seit dreieinhalb Jahren bitte er Mitmenschen auf diese Weise um Unterstützung, erzählt der Obdachlose. Probleme habe es nie gegeben – bis vor einigen Wochen. Da seien erstmals Polizisten zu ihm gekommen und hätten gesagt, er müsse gehen. „Die Stadt hat eine neue Verordnung erlassen, nach der Betteln verboten ist“, hätten die Beamten gesagt.
Anfang März hat die Hamburger Polizei erstmals gegenüber Hinz&Kunzt bestätigt, dass sie in der Innenstadt verstärkt gegen bettelnde Menschen vorgeht (siehe H&K Nr. 362). Berichten von Obdachlosen, nach denen Beamt:innen sich auf ein angebliches Verbot beriefen, hielt die Polizeipressestelle entgegen, es gebe kein neues Gesetz und auch keine Behördenweisung. Vielmehr habe die Polizei ihre Bediensteten „noch einmal sensibilisiert“.
Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer (SPD) hat im April in einem Zeitungsinterview erklärt, ihre Behörde sei für dieses Thema nicht zuständig – eine bemerkenswerte Haltung angesichts des Umstands, dass Armut und ihre Bekämpfung zu den Kernaufgaben ihres Ressorts gehören sollten. Die neue Linie der Hamburger Polizei erklärte Schlotzhauer so: „Das Wegerecht wird angewandt, und aggressives Betteln ist nun einmal nicht erlaubt.“ Was mit „aggressivem Betteln“ gemeint sei, wollte ihr Sprecher auf Nachfrage von Hinz&Kunzt nicht beantworten und verwies zur Definition auf die Polizei.
Der Senat hatte in einer Antwort auf eine Bürgerschaftsanfrage der Linksfraktion recht pauschal erklärt, einen „festen Bettelplatz“ einzurichten und Gegenstände aufzustellen sei eine Sondernutzung der Wege, die nicht erlaubt werden könne (siehe Infokasten). So einfach könne man es sich nicht machen, entgegnen Juristen: „Es kommt darauf an, wie sehr andere davon ausgeschlossen werden, den öffentlichen Raum zu nutzen“, sagt der Hamburger Rechtsanwalt Christian Bernzen, der früher mit dem heutigen Innensenator Andy Grote (SPD) zusammengearbeitet hat. Einen Becher vor sich aufzustellen, um damit um Geld zu bitten, sei jedenfalls noch keine verbotene Sondernutzung. Selbst bei einer „gewissen Beeinträchtigung anderer Verkehrsteilnehmer“ könne die Polizei das Betteln dulden, ergänzt der Frankfurter Verwaltungsjurist Wolfgang Hecker.
Die Hamburger Polizei prüft nach eigenem Bekunden jeden Einzelfall genau und schreitet nur dann ein, wenn durch das Betteln „eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegt“. Still bettelnde Menschen seien „nicht das Ziel polizeilicher Maßnahmen“, erklärt die Pressestelle auf Hinz&Kunzt-Nachfragen. „Im Einzelfall“ könnten aber auch sie Opfer eines Platzverweises werden, etwa dann, wenn sie „Zuwege verstellen oder den öffentlichen Verkehr behindern“. Wie sie „aggressives Betteln“ definiert, erklärte auch die Polizei nicht.
Viele Betroffene schildern allerdings immer wieder ein anderes Auftreten der Polizei als das der sorgsam im Einzelfall abwägenden Einsatzkräfte. Askan bettelt an diesem Morgen an einem der Zugänge zur U-Bahn-Station Jungfernstieg. Der 43-Jährige steht vor einem Pfeiler am Rand, damit er die Wege der Vorbeihastenden nicht stört, die Isomatte und eine kleine Tasche auf dem Rücken, einen Plastikbecher in der Hand. Bis vor Kurzem habe er einige Meter entfernt vor einem Geschäft gesessen, dort gebettelt und auch geschlafen, erzählt der Obdachlose. Dann habe der Ladeninhaber ihn mithilfe der Polizei vertrieben. Als er sich gegenüber am Rand des U-Bahn-Aufgangs auf den Bürgersteig gesetzt und dort um Unterstützung gebeten habe, seien Polizisten gekommen und hätten erklärt: Er dürfe nicht mehr im Sitzen betteln, nur noch im Stehen. Verstanden hat Askan das nicht: „Ich habe dort doch niemanden gestört!“ Und tatsächlich: Viele Meter breit ist der Bürgersteig an dieser Stelle – kaum vorstellbar, wie ein sitzender Mensch an diesem Ort Vorbeigehende behindern könnte.
Daniel, der Bettelnde in der Langen Reihe, hatte gehofft, die Demonstration gegen die Vertreibungen, die im April durch die Innenstadt zog, hätte bei der Polizei für ein Umdenken gesorgt. Einige Tage lang sei er in Ruhe gelassen worden, berichtet er. Doch dann kamen wieder zwei Beamte und forderten ihn zum Gehen auf. Passanten hätten zu den Polizisten gesagt: „Lassen Sie den Mann doch in Ruhe, der tut keinem was!“ Geholfen hat das nicht: Daniel musste trotzdem gehen.