Vor zehn Jahren kamen 300 Lampedusa-Geflüchtete nach Hamburg. Wie geht es ihnen heute? Wir haben Stephen Takyi, Ali Sudan, Ousmane Kabore und Kodjo Anabisa getroffen.
Ousmane Kabore
Ousmane Kabore trainiert in jeder freien Minute auf dem Spielfeld im „Park Fiction“, direkt gegenüber der St. Pauli Kirche, in der er fast anderthalb Jahre lang wohnte. Heute lebt er mit seiner Freundin und seinem fünf Jahre alten Sohn in einer Wohnung um die Ecke, jobbt im Jugendzentrum und in einem Restaurant im Viertel. Und er spielt Basketball in der Kreisliga für den FC St. Pauli. Zu schreiben, er sei „angekommen“, wäre wohl eine Untertreibung.
Ousmane ist 30 Jahre alt und kommt aus Burkina Faso. Er war einer der Jüngsten in der Lampedusa-Gruppe, hatte aber schon eine lange Leidensgeschichte hinter sich, als er in Hamburg landete. Er war vier, als seine Mutter als „Hexe“ verfolgt und aus dem Heimatdorf vertrieben wurde. Ousmane wuchs unter Anfeindungen auf und verließ mit 14 sein Dorf, suchte sich erst in Niger und später in Libyen Arbeit. Als dort der Krieg eskalierte, bestieg er mit 200 anderen Geflüchteten ein Boot Richtung Lampedusa. Das Boot sei fast untergegangen, erinnert er sich, er habe die Löcher im Rumpf mit seinen Klamotten gestopft. Noch Jahre später sei er Menschen begegnet, die auf demselben Boot waren wie er und sich für seinen Einsatz bedankten.
Lampedusa in Hamburg
Ihr Schicksal war zum Symbol für die gescheiterte Flüchtlingspolitik der EU geworden. Nach zähen Verhandlungen versprach der SPD-Senat schließlich, dass alle bis zum Ende ihres Verfahrens in Hamburg geduldet würden, wenn sie sich einer Einzelfallprüfung stellten. Das war umstritten, die juristischen Chancen standen schlecht; nur ein Drittel der Gruppe ließ sich darauf ein. Zehn Jahre später ist klar: Die allermeisten, die den Deal annahmen, durften ganz offiziell bleiben. Viele andere leben in der Illegalität – oder sind weitergezogen. bbu •
Als klar war, dass es in Italien keine Zukunft für ihn gebe, wollte er eigentlich nach Frankreich, wegen der Sprache. Doch die Frau am Schalter verkaufte ihm ein günstiges Ticket nach Hamburg. So landete er hier, lebte zwei Monate lang auf der Straße, knüpfte in einem Wettbüro Kontakte zu anderen Afrikanern und stieß zur Gruppe der Protestierenden. „Es war nicht leicht, Anschluss zu finden und zu verstehen, worum genau es ging“, erinnert er sich heute, „denn die meisten sprachen Englisch untereinander, ich kann aber nur Französisch, Arabisch und meine Stammessprache.“
Über den Kreis der Unterstützer:innen lernte Ousmane später seine Freundin kennen, und seit der Geburt seines Kindes hat er eine sichere Aufenthaltserlaubnis. Einfach waren die letzten Jahre trotzdem nicht. Sein Sohn erkrankte mit zwei Monaten an Leukämie, musste lange im Krankenhaus behandelt werden. Der ständige Kontakt mit Ärzt:innen und Pfleger:innen habe viel dazu beigetragen, dass sein Deutsch sich so verbessert habe, sagt Ousmane.
Heute ist der Kleine wieder gesund und war sogar schon zweimal mit in Burkina Faso, erzählt Ousmane. In seinem Heimatdorf Loumbila unterstütze er inzwischen eine Schule, mit Spenden, die er mithilfe von Freund:innen und Unterstützer:innen sammele. Die Leute, die seiner Mutter und ihm damals das Leben schwermachten, seien inzwischen alt oder verstorben und er hege keinen Groll mehr, sagt Ousmane. Auch wenn er das nur schwer erklären könne und in St. Pauli ein Zuhause gefunden habe: „Meine Heimat ist immer noch in Burkina Faso.“
Stephen Takyi
Stephen Takyi sitzt in der Bar im Erdgeschoss des historischen Eckhauses in Wilhelmsburg, dessen Miteigentümer er ist. Er und seine rund 40 Mitbewohner:innen kauften das viergeschossige Haus vor acht Jahren. Sie sind Teil des linken Wohnprojekts „GoMokry*“. Das Ladenlokal, in dem Stephen Besuch empfängt, ist Veranstaltungsort für regelmäßige „Soli-Partys“.
Die Finanzierung des Hauses gelang mithilfe der Beteiligungsgesellschaft „Mietshäuser Syndikat“, die nichtkommerziellen Hauserwerb unterstützt. Und auch die laufende finanzielle Belastung sei überschaubar, wenn diese auf so viele Köpfe verteilt sei, erklärt Stephen. Er verdiene ja auch schon seit einigen Jahren sein eigenes Geld.
Auch wenn Hauskaufen nach Erfolgsgeschichte klinge, hätten ihm viele seiner afrikanischen Freunde davon abgeraten, erzählt Stephen: „Ich war der einzige Schwarze unter über 40 Weißen, viele dachten, das könne nicht gutgehen.“ Doch er fand die Idee toll und wollte Teil davon sein. Er sei auch nicht der einzige Schwarze im Haus geblieben, denn er habe selbst regelmäßig andere Lampedusa-Geflüchtete bei sich aufgenommen. Für ihn sei das selbstverständlich, er selbst habe früher schließlich auch ständig bei Unterstützer:innen übernachtet.
An die Zeit bei Pastor Sieghard Wilm in der St. Pauli Kirche erinnert sich der heute 40 Jahre alte Ghanaer gerne. „Wir haben zusammen gekocht, zusammen gegessen, ständig kamen spontan Leute vorbei und die Stimmung war super. Es war fast wie in Afrika.“ Während der Zeit in der Kirche habe er das Gefühl bekommen, dass er sich hier in Hamburg gut werde integrieren können.
Als das Angebot vom Senat kam, griff er daher zu: „Warum nicht? Es war kein schlechtes Angebot und beide Seiten mussten aufeinander zugehen.“ Es habe deshalb viel Stress in der Gruppe gegeben, aber bei so einer wichtigen Sache müsse jeder für sich selbst entscheiden. Er sei optimistisch gewesen, weil er daran glaubte, dass Deutschland junge Menschen wie ihn und die anderen Geflüchteten genauso sehr brauche, wie sie Deutschland brauchten.
Stephen fand Arbeit beim Otto-Konzern, lernte eine Frau kennen und wurde Vater. Inzwischen hat er eine Aufenthaltserlaubnis und arbeitet für einen Onlineversand für afrikanische Mode. Sein wichtigstes Projekt aber ist der Verein „African future Kids“, den er vor einigen Jahren gründete und zu dem unter anderem ein Kindergarten in seinem Heimatdorf Drobo gehört. Auch seine deutschen Freund:innen unterstützen das Projekt, viele von ihnen seien auch schon mal mit in Ghana gewesen. Der Erlös der nächste Soli-Party in der Mokrystraße wird auf jeden Fall auch wieder in Stephens Verein fließen.
Ali Sudan
Zum Treffen kommt Ali Sudan direkt von einem Termin mit der Polizei, mit der er gerade die Auflagen für eine Wiedereröffnung des Lampedusa-Zelts am Steindamm aushandele. Das Zelt, das als wichtiger Ort des Austauschs zwischen Geflüchteten galt, wurde im Frühjahr 2020 von den Behörden geräumt. Seitdem kämpft Ali um die Wiedereröffnung.
Das Versagen der Politik, das Einknicken von Betroffenen, die Unfähigkeit vieler Geflüchtetenhelfer:innen, all das habe er in den letzten Jahren erlebt. Deshalb finde er es wichtiger denn je, sich zu engagieren, sagt er. Dass Teile der Gruppe sich vom Senat hätten abspeisen lassen, habe ihn bitter enttäuscht. Und ja, für ihn seien diese Männer auch irgendwie „Verräter“, auch wenn er niemanden direkt verurteilen wolle: „Viele wussten es nicht besser, sie waren ungeduldig, ihnen fehlte vielleicht auch der politische Geist, um weiterzukämpfen.“ Dabei seien die italienischen Aufenthaltspapiere, die alle Lampedusa-Geflüchteten bereits hatten, viel mehr wert gewesen als die vom Senat angebotene Duldung. Ihm selbst stehe bald sogar die italienische Staatsbürgerschaft zu.
Ali Sudan, der eigentlich Ali Ahmad heißt, kam 1969 zur Welt. Er ist der einzige Sudanese in der Gruppe und einer der Ältesten. Für ihn war Libyen die Heimat, in der er einen Großteil seines erwachsenen Lebens verbracht hatte. Er war zum Studium nach Tripolis gezogen, hatte dort als Lehrer gearbeitet und später ein Restaurant geführt. 2011 stellte der Bürgerkrieg sein Leben auf den Kopf und zwang ihn zur Flucht nach
Italien. Seine sechs erwachsenen Töchter aus seinem „alten Leben“ im Sudan hat er schon seit Jahren nicht mehr gesehen.
Später habe er sich für Hamburg entschieden, weil er gehört hatte, dass die Stadt eine stabile linke Szene habe. „Lampedusa in Hamburg“ schien das auch einzulösen. Ali versteht sich bis heute als Sprecher der Gruppe, auch wenn sie oft vereinnahmt worden sei: „Selbst für den Protest gegen Olympia mussten wir herhalten! Ich war auch gegen Olympia, aber was hatte das mit uns Geflüchteten zu tun?“
Aber es habe auch auch viele gute Aktionen gegeben, die ihm Hoffnung machten: etwa die internationale Geflüchtetenkonferenz, die 2016 auf Kampnagel stattfand und an der er beteiligt war. Oder die vielen Theaterprojekte mit Geflüchteten, bei denen er mit auf der Bühne stand und in verschiedenen europäischen Ländern auftrat. Bis heute bekomme er Einladungen zu Konferenzen und Workshops. Für ihn ein Zeichen, dass der Kampf nicht ganz verloren sei.
Aktuell wohnt Ali in einer WG mit politischen Unterstützer:innen. Das sei ihm inzwischen solide genug. Ein wirkliches Zuhause habe er in Hamburg zwar nicht gefunden, sagt er, aber immerhin „viele gute Leute.“
Kodjo Anabisas
Das Erste, was beim Besuch in Kodjo Anabisas Wohnung auffällt, sind die Koffer, die sich im Flur stapeln. Als wäre er immer auf dem Sprung. Dabei fühlt sich der gebürtige Ghanaer angekommen hier in Finkenwerder, wo er seit sieben Jahren lebt. Die Einzimmerwohnung im Untergeschoss eines Friseursalons ist eng und dunkel, aber Kodjo präsentiert sie stolz. Nach einer jahrelangen Odyssee, die ihn über Libyen und Italien nach Deutschland führte, mit unzähligen Stationen in Geflüchtetenlagern und Notunterkünften, bietet sie ihm einen sicheren Hafen. Eine Tür, die er hinter sich zuziehen kann, eine eigene Küche, ein eigenes Bad. „Ich fühle mich echt wohl hier“, sagt Kodjo mit breitem Lächeln.
Wenn der heute 35-Jährige seine Geschichte erzählt, klingt es so, als hätte er immer wieder Glück gehabt. Die Zeit als Tagelöhner in Libyen? „Harte Arbeit, aber finanzielle Sicherheit.“ Die Vertreibung durch libysche Rebellen, die allen schwarzen Afrikanern unterstellten, Gaddafi-Söldner zu sein, und die Flucht nach Italien, wo er zwei Jahre lang von Camp zu Camp zog? Zermürbende Perspektivlosigkeit, „aber immerhin 75 Euro Taschengeld im Monat“. Die Ankunft in Hamburg und die ersten Wochen in der Notunterkunft Pik As? „Völlig okay. Ein warmes Bett, eine warme Mahlzeit.“ Mehr habe er in dieser damals so kalten, fremden Stadt, in der er 2013 zufällig landete, gar nicht erwartet.
Dass er zu den 80 Männern aus der Lampedusa-Gruppe gehörte, die in der St. Pauli Kirche wohnen durften, sei auch mit Blick auf seinen Aufenthalt Glück gewesen, glaubt er. Pastor Wilm habe niemanden zu irgendwas überredet, aber die Stimmung in der Kirche sei klar dahingegangen, dass die vom Senat angebotene Duldung ein wichtiger Schritt hin zu einem sicheren Bleiberecht sei. Kodjo ließ sich darauf ein, wofür ihn manche Gruppenmitglieder bis heute kritisierten: „Ich bin immer wieder zu ihnen gegangen, habe gesagt, schaut, ich mache einen Deutschkurs, jetzt habe ich ein Praktikum, jetzt eine feste Arbeit, aber sie sagen trotzdem immer wieder, die Duldung sei schlecht.“
Die von vielen geteilte Sorge, dass die mit der Duldung einhergehende Einzelfallprüfung zur Abschiebung führen könnte, war berechtigt. Für Kodjo aber hätte es nicht besser laufen können. Er hat heute eine Aufenthaltserlaubnis und Arbeit bei einem Airbus-Zulieferer. Er kann sich sogar Heimaturlaub leisten. Wenige Tage nach diesem Treffen steht eine mehrwöchige Ghana-Reise an. Deshalb die vielen Koffer im Flur.