„Housing First“ für Obdachlose gibt es nun auch in Hamburg. Während Jens bereits eingezogen ist, muss Doro noch auf eine Wohnung warten. Wie geht es den beiden?
Die erste Nacht hat Jens probegeschlafen. Hat den Rucksack genommen, Schlafsack und Isomatte und ist kurz vor Weihnachten mit der U-Bahn rausgefahren zu dem gelb geklinkerten Wohnblock in Hamm. Sein Mietvertrag gilt erst ab Januar. Doch der Vermieter, ein Hamburger Unternehmen, hat Jens ein vorzeitiges Geschenk gemacht: Der Obdachlose darf zehn Tage früher in die Wohnung einziehen. Also liegt Jens am Abend des 21. Dezember 2022 auf dem nackten Fußboden und spürt nach, wie sich eigene vier Wände anfühlen. „Das war ungewohnt. Die Stille war merkwürdig. Ich war so aufgeregt, dass ich nicht schlafen konnte.“
Sechs Wochen später, an einem Nachmittag Anfang Februar, empfängt der 61-Jährige den Hinz&Kunzt-Redakteur mit einem Lächeln und frisch gekochtem Kaffee. Er hat sich überreden lassen, dass der Besuch den Kuchen mitbringt. Jens bietet seinen Lieblingsstuhl an, einen weißen Korbsessel. Im Hintergrund läuft der Fernseher. Es gehe ihm gut, sagt er: „Ich kann auf Toilette gehen, ohne dafür zu bezahlen. Ich muss keine Dusche suchen. Und ich kann mir regelmäßig warmes Essen kochen – auf Platte bekommst du ja nur Brot oder Brötchen.“
Der Bürgergeldempfänger ist so etwas wie ein Pionier: Er ist der erste Obdachlose in Hamburg, der mithilfe eines neuen Modellprojekts in eigene vier Wände gezogen ist. Die Idee von „Housing First“ klingt so einfach wie überzeugend: Menschen, die auf der Straße leben, brauchen erst mal eine Wohnung, um sich dort in Ruhe um weitere Probleme kümmern zu können – und keine behelfsmäßige Unterkunft wie bislang üblich. Der Hilfeansatz wurde inzwischen weltweit mit Erfolg erprobt (siehe Infokasten). Trotzdem hat sich der rot-grüne Senat nur zu einem Mini-Modellversuch durchringen können: 30 Wohnungen in drei Jahren soll „Housing First Hamburg“ für Obdachlose akquirieren. Eine verschwindend kleine Zahl angesichts der mindestens 2000 Menschen, die auf den Straßen der Stadt schlafen.
„Hätten wir eine Warteliste aufgemacht, hätten wir ganz schnell 300 Bewerber gehabt“, sagt Florian Hohenstatt. Der 42-Jährige ist einer von drei Sozialarbeitenden, die die Glücklichen auswählen und dafür sorgen sollen, dass die Menschen ihre Wohnung nicht wieder verlieren. Um nicht unnötig für Frust zu sorgen, würden bei jeder Bewerbungsrunde nur wenige Obdachlose aufgenommen. Schließlich muss das Housing-First-Projekt die Wohnungen selbst auf dem engen Hamburger Markt finden. Dass der Senat die städtische Saga bislang nicht maßgeblich als Vermieterin eingebunden hat, macht die Sache nicht einfacher: Neun Monate nach dem Start des Modellprojekts sind erst sieben Obdachlose wie Jens in eine eigene Wohnung gezogen.
Wohnungen für Obdachlose gesucht!
Modellprojekte weltweit haben immer wieder gezeigt, dass „Housing First“ obdachlosen Menschen hilft und den Staat langfristig weniger kostet als die jahrelange Unterbringung in Unterkünften. Der erste Versuch startete bereits vor 30 Jahren in New York City. Das Ergebnis: Nach vier Jahren lebten neun von zehn Teilnehmenden noch in der Wohnung. In Europa gilt Finnland als Vorbild, hier ist „Housing First“ mittlerweile landesweite Praxis. Auch in vielen deutschen Städten, etwa Berlin oder Bremen, laufen inzwischen Modellversuche. Wichtige Grundprinzipien: Die ehemals Obdach- und Wohnungslosen erhalten einen eigenen Mietvertrag und haben Anspruch auf Hilfsangebote. Diese sind aber freiwillig und keine Bedingung für eine Wohnung. Bislang ist es Standard, dass Betroffene erst nachweisen müssen, dass sie „wohnfähig“ sind, bevor sie eine Chance auf eigene vier Wände bekommen. In Hamburg wird die Arbeit des auf drei Jahre angelegten Modellprojekts von der Stadt finanziert, ein Trägerverbund setzt es um. Dringend gesucht werden weiterhin Wohnungen.
Hinz&Kunzt-Verkäuferin Doro befindet sich noch in der „Anbahnungsphase“: Einmal die Woche trifft sie sich mit ihrem Sozialarbeiter und bespricht, welche Papiere ihr noch fehlen. Die 40-Jährige hat zuletzt Glück gehabt: Seit einem Jahr ist die Drogenkranke im Methadon-Programm. Täglich bekommt sie dort den Ersatzstoff, der ein Weg aus der Heroinsucht sein kann. Dank eines spendenfinanzierten Projekts kann sie bis Ende April gemeinsam mit ihrem Freund in einem Hotelzimmer wohnen. Bis dahin, so hofft sie, hat es mit der Housing-First-Wohnung geklappt. Wenn Doro ihre Geschichte erzählen soll, spricht sie in sehr kurzen Sätzen. Macht bald eine Zigarettenpause. Und schließlich kommen ihr die Tränen. Ihre Eltern trennen sich bald nach der Geburt. Doro fängt früh an zu rauchen, schon mit zwölf probiert sie Kokain aus. Kurze Zeit später kommt sie mit Springer-Stiefeln nach Hause und rasiert sich die Haare an den Seiten ab. „Meine Mutter hat gedacht, ich wäre ein Nazi. Dass ich eine Punkerin war, wollte ihr nicht in den Kopf.“ Sie sei schon immer rebellisch gewesen, sagt Doro, „mein Vater hat mich Mini-Satan genannt“. Als 15-Jährige wird sie von ihrer Mutter schließlich vor die Tür gesetzt: „Der hat es nicht gepasst, wie ich war.“
25 Jahre lang lebt sie anschließend vor allem auf der Straße oder bei Bekannten. Eine Wohnung hat sie zuletzt 2014, gemeinsam mit ihrem damaligen Partner. Doch nachdem die Beziehung in die Brüche gegangen ist, verlässt sie Wohnung und Stadt für „einen falschen Typen“. Zuletzt hat Doro vor allem Platte gemacht. An einem kalten Märztag zeigt sie im Wohlers- und im Schanzenpark die Plätze, an denen sie die vergangenen Winter verbracht hat. Im Zelt, mit ihrem Freund, „bei minus 15 Grad und kälter, das war ätzend“. Klar hätten die beiden lieber in einer Unterkunft geschlafen – wenn es eine passende für sie gegeben hätte. Doro erinnert sich an den vergangenen Herbst, als die begehrten Wohncontainer-Plätze des Winternotprogramms für obdachlose Pärchen verlost wurden: „Da waren bestimmt 30 Paare. Und nur drei haben einen Platz bekommen.“
Ihre Geschichte verdeutlicht auch einen Schwachpunkt des hiesigen Housing-First-Projekts: Nur Menschen mit Anspruch auf Sozialleistungen dürfen sich bewerben. Doros Freund stammt aus Polen. Weil er hier nur Schwarzarbeiter-Jobs erledigt hat, für die es keine Nachweise gibt, billigt ihm das Jobcenter kein Geld zu. Und das bedeutet: Er ist raus. Mindestens ein Drittel der Hamburger Obdachlosen kommt aus einem anderen Land, viele haben in der Schattenwirtschaft gearbeitet. Deshalb sagt Sozialarbeiter Florian Hohenstatt: „Es wäre kein Fehler, die Zielgruppe zu erweitern.“ Doch dazu müssten Gesetze geändert werden.
Zurück zu Jens: Der flüchtet 2014 auf die Straße, er hält es allein in der Wohnung nicht mehr aus. Sieht seine Mutter in der Küche sitzen, obwohl die Monate zuvor gestorben ist. „Ich dachte, ich werde verrückt.“ Es folgen Jahre auf Platte. Notunterkünfte meidet er, weil sie ihm zu voll sind, „das muss ich nicht haben, da gehe ich lieber auf die Straße“. Einmal, 2020, bekommt er ein Zimmer in einer Dreier-WG in einem Wohnheim für Obdachlose. Doch nach gut zwei Jahren gibt es Streit. Jens geht zurück auf die Straße. Über die Gründe möchte er nicht sprechen.
Knapp 30 Jahre habe er als Wachmann für Sicherheitsdienste gearbeitet, erzählt Jens, „nicht mal die Hälfte davon offiziell“. Ob Scheinselbstständigkeit oder Schwarzarbeit: „Ich hatte das Geld bar auf der Kralle – und hab es auf der Reeperbahn verprasst.“ 80.000 Euro Schulden habe er angehäuft. Inzwischen stehe sein Privatinsolvenzverfahren kurz vor dem Abschluss. Doch die 502 Euro Bürgergeld im Monat reichen vorne und hinten nicht. Zumal er davon auch 73 Euro für Strom zahlen muss und 50,20 Euro für die Kaution, die ihm das Jobcenter vorgestreckt hat. Irgendein Minijob noch wäre toll, meint Jens, vielleicht bei einem Kurierdienst: „Ich fühle mich noch nicht wie Anfang 60.“
Oft steht Jens mitten in der Nacht auf und kocht sich einen Tee. Dann lassen ihn die Erinnerungen nicht schlafen. Bilder seiner Familie ziehen ihm durch den Kopf, Mutter, Vater, Bruder, sie sind alle verstorben. Eine Tochter habe er und drei Enkelkinder, erzählt er. Sie leben in Hamburg, nur wenige Kilometer entfernt. „Aber ich habe keinen Kontakt.“ Verabredungen seien immer wieder geplatzt. „Da hab ich mir gesagt: Lass es, wir werden uns nicht wiedersehen.“ Die Enttäuschung klingt in seiner Stimme mit. Manchmal denkt Jens auch an die Zeit, die er gemeinsam mit anderen Obdachlosen auf Platte verbracht hat. „Irgendwie fehlt mir das schon“, sagt er, „der Kontakt“. Auch deshalb, und nicht nur wegen des knappen Geldes, sitzt der ehemals Obdachlose immer noch regelmäßig in der Spitaler Straße und bettelt. „Da sprechen mich die Leute an und stellen Fragen“, erzählt er. „Das tut immer ganz gut.“
Doro weiß genau, was sie tun wird, wenn sie endlich die Wohnungsschlüssel hat: Sie wird streichen. Bunte Farben stellt sie sich vor, „das wird ein halber Dschungel werden“. Anschließend möchte sie viele Pflanzen kaufen: „Ich habe nur zwei Daumen, aber die sind grün.“ Und dann will sie „klarkommen“, sagt sie: „Ich will wieder arbeiten, etwas mit Pflanzen oder mit Tieren.“ Denn stillsitzen könne sie nicht: „Da fällt mir die Decke auf den Kopf – egal wie hoch sie ist.“