Boxerin Dilar Kisikyol

„Mein Leben hat mit einem Kampf begonnen“

Ulrike Stender-Killgusz (links) trainiert mit Dilar Kisikyol in der Winterhuder Boxhalle. Foto: Miguel Ferraz

Dilar Kisikyol ist Profiboxerin, Sozialpädagogin und Trainerin von Frauen mit Parkinson. Nun will die Weltmeisterin im Leichtgewicht weitere Projekte anschieben – und damit für Inklusion und Feminismus kämpfen.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Boxerin Dilar Kisikyol kommt nicht zur Ruhe. An diesem Mittwoch steckt sie irgendwo zwischen Sektfrühstück und Kaffeeklatsch. Sie hat einen Apfel­kuchen gebacken, nun fehlt noch der Kaffee. Sie läuft aus der Halle und verpasst, als um 11.56 Uhr der erste Korken knallt. Iris, Ute, Bettina und die anderen haben den Sekt mitgebracht. Mit den Gläsern in der Hand stehen die Frauen nun ein bisschen neben dem Boxring herum und warten auf ihre Trainerin, die noch immer Kaffee kocht. Eine wirft einen Basketball, eine andere klärt die Gäste von der Presse auf: „Der Sekt ist alkoholfrei, natürlich.“ Ist ja eigentlich schon Trai­ningszeit, nur gibt es heute etwas zu feiern.

Iris Wilhelm will das Gespräch in der Boxhalle in Winterhude ein wenig anheizen und erzählt, dass Boxkämpfe für sie als Kind das Einzige gewesen seien, wofür ihre Mutter sie länger ­habe aufbleiben lassen; Boxkämpfe und die Mondlandung. Iris Wilhelm ist heute 65 Jahre alt, zum Boxen kam sie erst, als sie an Parkinson erkrankte. 

Wilhelm und die anderen Frauen boxen jeden Mittwoch gegen die Krankheit an, zehn Sekunden trippeln sie auf der Stelle, das sind die Boxerläufe für die Kondition, danach das Schattenboxen gegen das Zittern. „Es hilft“, sagt Wilhelm. Sie fühle sich ruhiger nach dem Training, das Zittern bleibe für mehrere Stunden aus. Gemeinsam mit zwei anderen Frauen war sie es, die auf den Hamburger Boxverband zukam und nach einem Angebot für Parkinsonpatient:innen fragte. Sie hatte eine Doku über die positiven Auswirkungen im Fernsehen gesehen. Und dann saß irgendwann Dilar Kisikyol vor ihnen, die Frauen- und Inklusionsbeauftragte des Hamburger Boxverbandes, und sagte: „Lasst es uns einfach probieren!“

Neulich, als die 30-jährige Kisikyol in Hamburg um die Weltmeisterschaft boxte, waren die Frauen alle dabei. Der goldene Weltmeistergürtel liegt jetzt hier in der Halle, und die Frauen stoßen endlich gemeinsam an: „Auf Dilar, auf die nächste WM!“

Für sie ist Dilar Kisikyol schon ein Star, sie muss da gar nicht mehr viel machen. Sie selbst sieht das ein bisschen anders.

Zwei Wochen vor dem Sektkorkengeknalle sitzt Dilar Kisikyol am Schreibtisch in ihrem Büro, das liegt im selben Gebäude wie die Boxhalle. In dem Raum steht eine Reihe goldener Pokale, eine Liege, eine Mikrowelle. Gerade war sie noch in der Halle nebenan, hat zwei Männern beim Training zugesehen, Fäuste schlagen, auf der Matte tänzeln, schnaufen. „Die können sich voll und ganz auf den Sport konzentrieren“, sagt Kisikyol. Was sie damit auch meint: Frauen, die im Boxsport eine Karriere anstreben, können das nicht. „Frauen müssen viel mehr für die Sache kämpfen“, sagt sie.

Kisikyol ist jeden Tag hier, ab acht Uhr. Sie trainiert von neun bis elf, dann schiebt sie ihr Mittagessen in die Mikrowelle, telefoniert, organisiert Boxtrainings, ruft bei Verbänden und Politiker:innen an, um ihnen von ihrem Projekt zu erzählen. Jeden Mittwoch um 14 Uhr kommen Iris, Ute, Bettina und die anderen. Von 16 bis 18 Uhr trainiert wieder sie selbst. Sie ist zwar Profiboxerin, aber anders als ihre männlichen Kollegen kann sie davon nicht leben. Sie kämpft nicht nur um den Sport, sondern immer auch um Sponsoren: für sich, aber auch für ihre sozialen Projekte.

Dilar Kisikyol lacht viel und macht immer wieder Witze, ihr liebster Spruch ist aktuell: „Im nächsten Leben werde ich Prinzessin.“ Vielleicht, weil dahinter eine kleine Wahrheit steckt; der Wunsch, dass sie es gerne leichter hätte, nach ganz oben zu kommen. Andererseits, das ist wohl ihr Vorteil: Sie kämpft eben gerne.

Dilar Kisikyol ist in Leverkusen geboren, ihr Name bedeutet auf Kurdisch: „Feuerherz“. Sie ist ein Drillingskind und war das leichteste unter den drei Geschwistern, nur 1500 Gramm schwer, diese Details erzählt sie gern. Weil es ja durchaus plausibel wäre, dass genau die sie später zum Boxen gebracht haben. „Mein Leben hat mit einem Kampf begonnen“, so sagt sie das.

Als Kind war sie immer diejenige, die nicht wusste, wohin sie will. Die nicht gut in der Schule war, die sich treiben ließ, während ihre vier Geschwister schon Pläne machten und an die Zukunft dachten. Sie probierte vieles aus, Fußball, Basketball, auch Klavier. Die Klavierlehrerin riet ihr, dass sie das mit der Musik besser lassen sollte, und prophezeite: Dilar Kisikyols Stärken dürften woanders liegen. 

Das Boxen faszinierte Kisikyol, doch als sie mit 16 Jahren das erste Mal zum Training gehen wollte, kehrte sie wieder um. Sie sah die vielen Jungs in der Halle – und sich selbst nicht zwischen ihnen. Beim zweiten Mal nahm sie eine Freundin mit, ­gemeinsam blieben sie die ganze Stunde lang. Und da atmete Kisikyol erstmals die Hallenluft, den Geruch der muffigen Handschuhe und led­rigen Boxsäcke, spürte den Rhythmus des Sports, der so gut zu ihrem eigenen passte. „Mir hat der Sport damals Hoffnung gegeben“, sagt sie. Endlich hatte sie etwas gefunden, auf das sie ihre Zukunft aufbauen wollte. Sie
ließ sich zur Sozialpädagogin und Gymnastiktrainerin ausbilden und boxte immer weiter.

Für den Sport zog sie 2019 nach Hamburg und begann ihre Profikarriere. Eigentlich wollte sie sich als Sozialpädagogin bei einem Hamburger Boxverein bewerben, nahm dort spontan an einem Training teil – und bekam das Angebot, als Profi für die Promotionfirma Universum zu boxen. Sie nahm an, heute steht sie auf Platz drei der Weltrangliste. Im November 2022 gewann sie den Weltmeistertitel der Woman’s International Boxing Federation (WIBF) im Leichtgewicht. Einst war Regina Halmich in derselben Gewichtsklasse WIBF-Weltmeisterin; die Frau, die das Frauenboxen in Deutschland populär gemacht hat.

Kisikyol möchte auf die soziale Wirkung des Boxsports setzen, ihre Projekte noch größer machen. Neben der Parkinsongruppe, die Kisikyol ehrenamtlich führt, trainiert sie auch Menschen mit Behinderung, ist seit Jahren zum Beispiel Personal Trainerin für einen Sportler mit Down-Syndrom. Manchmal gibt sie Boxkurse für Firmen, damit verdient sie sich etwas hinzu. Sie möchte auch mit Schulen zusammenarbeiten, um Gewaltprävention und Inklusionskurse anzu­bieten. Für sie ist es das Training der mentalen Stärke, das den Boxsport ausmacht: das Durchhalten, das Weiterkämpfen, das im Kopf beginnt. Sport

Aber auch für ihre eigene Karriere als Profiboxerin hat sie noch einige Ziele, der Weltmeistertitel soll nur
eine erste Etappe gewesen sein. Und sonst? Klar: „Werde ich eben Prinzessin“, sagt sie. Ihr eigentlicher Wunsch ist aber ein anderer, der eines gemeinsamen Erfolgs: „Frauen müssen lernen, miteinander zu arbeiten, nicht sich zu bekämpfen“, sagt sie. Da gebe es nur eine Ausnahme, und die gerne häufiger: Wenn sie gemeinsam im Boxring stehen.

Artikel aus der Ausgabe:

Frauen im Hafen

Der Hamburger Hafen ist eine Männerdomäne? Von wegen! Wir stellen Frauen vor, die den Hafen verändern. Außerdem: Philosophin Eva von Redecker im Interview über die Rolle von Frauen in Revolten, eine Reportage über Menschen am Hauptbahnhof und ein Porträt von Boxweltmeisterin Dilar Kisikyol, die für Inklusion und Feminismus kämpft.

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Autor:in
Anna-Elisa Jakob
Anna-Elisa Jakob
Ist 1997 geboren, hat Politikwissenschaften in München studiert und ist für den Master in Internationaler Kriminologie nach Hamburg gezogen. Schreibt für Hinz&Kunzt seit 2021.

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