Soziale Bewegungen

Frauen auf den Barrikaden

Die Philosophin Eva von Redecker beschäftigt sich mit Eigentum und sozialem Wandel. Im Mai erscheint ihr neues Buch „Bleibefreiheit“. Foto: Sophie Brand

Welche Rolle spielten Frauen in sozialen Revolutionen? Ein Gespräch mit der Philosophin Eva von Redecker anlässlich des Internationalen Frauentags am 8. März – auch darüber, was heutige Protestbewegungen aus der Geschichte lernen können.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Hinz&Kunzt: Große Proteste der vergangenen Jahre wurden von Frauen angetrieben, in Belarus, im Iran, die Klima­bewegung: Was sagt das über unsere Gegenwart aus?

Eva von Redecker: Zunächst sagt das aus, dass wir Geschichte aus patriarchalen Geschichtsbüchern gelernt ­haben. So ungewöhnlich ist das nämlich nicht. Zum ­Beispiel waren bei der französischen und der russischen Revolution viele Frauen präsent und haben das Geschehen stark mitgestaltet. Nur kippt dieses Bild in der Überlieferung meist zu einem Bild weniger männlicher Helden. Aber ich glaube schon, dass aktuell etwas Besonderes passiert: Viele Fragen der Sorge um das Leben bündeln sich in diesen Protesten. Und darin kann eine Perspektive, die aus der ­traditionell weiblich geprägten Arbeit kommt, besonders weitreichend oder auch leitend sein.

In Ihrem Buch „Revolution für das Leben“ beschreiben Sie das Leben als zentrales Motiv heutiger Proteste. Was meinen Sie damit?

Ich habe erst mal beobachtet, dass es in vielen Bewegungen einen starken Bezug auf das Leben gibt. Vor allem geht es um die Befreiung aus der Sachherrschaft: So nenne ich es, wenn bestimmte Menschen einen Eigentumsanspruch an anderen Menschen oder an der Natur haben. Wenn einem etwas gehört, kann man darüber verfügen und es sogar zerstören. Dieses Aufbegehren gegen „Kaputtbesitz“ scheint mir ein gemeinsames Anliegen verschiedener Bewegungen zu sein, auch der Klimabewegung. Es zeigt, dass unsere kapitalistische Lebensform nicht nur ausbeutet, sondern auch das Leben zerstört.

Eine Ihrer Thesen ist: Da die Arbeit von Frauen über Jahrhunderte hinweg eher an den Bedürfnissen des Menschen orientiert war und die Arbeit von Männern an denen des Marktes, sind Frauen in sozialen Protesten heute so präsent.

Das sind natürlich Zuspitzungen, das trifft nicht auf jeden Mann oder jede Frau zu. Worauf es mir ankommt, sind die verschiedenen Bereiche im Kapitalismus: Der männlich geprägte Bereich produziert Waren für den Markt, der weib­liche erhält das Leben. Der erste wendet sich dabei aber gegen das Leben, zum Beispiel durch systematisches Erzeugen von Abfallstoffen, Giften oder Emissionen. Die Ausrichtung unserer Tätigkeiten nach den Bedürfnissen des Lebens – und damit hin zu dem als weiblich angesehenen Bereich – wäre eine passende Neuausrichtung unserer Wirtschaft.

Wie wichtig ist es dafür, dass vor allem Frauen an den Spitzen sozialer Bewegungen stehen?

Es ist vor allem ein ermutigendes Zeichen. Und es nimmt vielleicht den Druck von einzelnen Heldenfiguren und verteilt ihn auf mehrere Akteur:innen.

Beobachten Sie das denn? Es gibt doch weiterhin einzelne Leitfiguren, zum Beispiel in der Klimabewegung.

Ich würde Aufmerksamkeit nicht unbedingt mit Macht gleichsetzen. Natürlich hat Greta Thunberg eine einzig­­-
ar­tige Aufmerksamkeit, doch Entscheidungen werden bei „Fridays For Future“ basisdemokratisch gefällt. Aber ja, in der Klimabewegung haben wir diese Stars. Eine Bewegung, die das komplett vermeidet, ist „Black Lives Matter“. Die haben 2020 unvergleichbar viele Menschen schnell für sich gewinnen können – mit einem Konzept, das Führungs­figuren bewusst ablehnt. Das liegt auch an der bitteren Erfahrung in den USA, dass einzelne Anführer von politischen Feinden ermordet wurden. Sie nennen dieses Konzept „leaderfulness“, eine Art der Vielfachführung. Die Idee ist, so viele Akteur:innen  wie möglich zu er­mutigen, dass sie Entscheidungen treffen, Strukturen aufbauen und Autorität haben. Wenn viele Menschen Autorität haben, hat man eine demokratischere Bewegung, weil sich verschiedene Positionen äußern können.

Inwiefern beeinflusst denn die Heterogenität einer Bewegung ihren Erfolg?

Je breitere Bündnisse eine Bewegung schließen kann, desto mächtiger und auch lebendiger ist sie. Eine Bewegung ist ja kein Heer, in dem im Gleichschritt marschiert werden soll. Es ist eher wie eine Baustelle. Die Welt ist eine Baustelle und man will sie gemeinsam reparieren. Je mehr Fähigkeiten man dafür hat, umso besser. Wichtig ist dann, dass sie zusammenarbeiten.

Wenn man die Geschichte sozialer Revolutionen mehr aus der Perspektive der Frauen erzählt, dann wirken Hartnäckigkeit und Ausdauer wichtiger für ihren Erfolg. Ist das auch Ihre Definition?

Absolut. Revolution ist kein einmaliges Ereignis, sondern ein zusammenhängender Prozess vieler kleiner Einsatzpunkte. Wie ich am Anfang gesagt habe: Es gibt diese rückblickende Heroisierung von ein paar Männern und einem entscheidenden Kipppunkt. Doch das ist falsch. Sozialer Wandel heißt, an ganz vielen verschiedenen Orten ganz beharrlich das Richtige zu fordern und weiterzumachen.

Artikel aus der Ausgabe:

Frauen im Hafen

Der Hamburger Hafen ist eine Männerdomäne? Von wegen! Wir stellen Frauen vor, die den Hafen verändern. Außerdem: Philosophin Eva von Redecker im Interview über die Rolle von Frauen in Revolten, eine Reportage über Menschen am Hauptbahnhof und ein Porträt von Boxweltmeisterin Dilar Kisikyol, die für Inklusion und Feminismus kämpft.

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Autor:in
Anna-Elisa Jakob
Anna-Elisa Jakob
Ist 1997 geboren, hat Politikwissenschaften in München studiert und ist für den Master in Internationaler Kriminologie nach Hamburg gezogen. Schreibt für Hinz&Kunzt seit 2021.

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