Zum Auftakt des Hinz&Kunzt-Jubiläumsjahres geht die „Homeless Gallery“ an den Start – mit 30 Kunstwerken, an denen Hinz&Künztler:innen mitgewirkt haben. Der Clou: Die Kunst ist mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI) entstanden.
Jörg Petersen ist unzufrieden: „Das ist mir zu düster.“ Der Mittfünfziger sitzt in einem mit Vorhängen abgedunkelten Raum und zeigt auf einen Monitor.
Neben ihm tippen zwei Mitarbeitende der Agentur Fischer-Appelt Begriffe in den Computer, das Bild auf dem Monitor wird bunter. Hier, in einer ehemaligen Fabriketage im Hamburger Kontorhausviertel, entstehen Gemälde am Rechner.
Es ist das Thema in der Kunstwelt im Jahr 2023: Bildsoftware, die in Sekundenschnelle jedes erdenkliche Szenario kreieren kann. Ein fliegender Maulwurf vor drei Regenbögen, im Aquarellstil eines Paul Klee? Ein nachdenklicher Mann, an der Alster sitzend, gemalt mit Acrylfarben? Alles kein Problem für die Künstliche Intelligenz (KI). Einfach ein paar Stichworte in den Computer eingeben und schon wird das passende Bild erzeugt – ein umstrittenes Modell, das bei allen ethischen und juristischen Bedenken auch Vorteile mit sich bringt: Ohne zeichnen oder programmieren zu können sind Laien in der Lage, höchst individuelle Kunst zu erschaffen.
Das ist die Grundidee der Homeless Gallery: Aktuelle und ehemalige Hinz&Künztler:innen erzählen ihre jeweilige Geschichte, die dann die Basis für KI-Kunst bildet. Die entstandenen Bilder werden im Format 1 x 1,20 Meter an öffentlichen Orten in Hamburg ausgestellt und in einer Auktion versteigert – die Erlöse kommen Hinz&Kunzt zugute. Es ist die erste KI-Kunstausstellung für und von Menschen ohne Obdach.
Mehrere Kreativagenturen haben sich zusammengeschlossen, um für Hinz&Kunzt das ambitionierte Projekt zu verwirklichen: 30 Jahre Hinz&Kunzt mit 30 Geschichten und 30 Kunstwerken zu feiern. Am 21. Februar wird die Homeless Gallery eröffnet, anschließend geht sie mehr als eine Woche lang auf Tournee durch die Stadt.
Zurück im Kontorhaus gegenüber dem Chilehaus: In einer komplett weiß getünchten Etage wuselt mehr als ein Dutzend junge Leute herum. Die Atmosphäre ist locker, alle sind sofort per du. Kai-Uwe Gundlach greift zu seinem Handy und lässt elektronische Beats über Bluetooth-Lautsprecher wummern: „Wir dürfen hier ja Krach machen.“ Das motiviert bei der Arbeit, die für den bekannten Werbefotografen business as usual ist: Er porträtiert ausgewählte Hinz&Künztler:innen für den Verkaufskatalog. „Woohoo!“, ruft Kai-Uwe, während er Jörg Petersen ohne Oberhemd ablichtet, um dessen Oberarm-Tattoo einzufangen. Jörg wird später noch bei der Erstellung der Kunst gefilmt werden. Aber nun steht erst einmal ein Audio-Interview mit dem Mann mit den freundlichen Augen an, der nun wieder Jeanshemd und Weste trägt.
Regelmäßige Leser:innen kennen Jörg Petersen, Hinz&Kunzt begleitet ihn seit Jahren. Über seine Zeit auf der Straße schrieb er das Buch „Ich seh’ den Himmel …“. Ingesamt sieben Jahre lang hat Jörg Platte gemacht. Sein Vater hatte ihn zu Hause rausgeschmissen, es folgten beruflich unstete Zeiten. Der Kontakt zur Familie brach ab, erst nach dem Tod von Vater und Bruder traf er die Mutter wieder. Inzwischen hat Jörg wieder einen festen Job, ist dem Straßenmagazin aber nach wie vor freundschaftlich verbunden. In einer improvisierten Aufnahmekabine erzählt der Ex-Hinz&Künztler nun auch von seinem Glauben. Er könne gut zuhören und habe bei seiner Arbeit im Seniorenheim für alle ein offenes Ohr. Noch während des Interviews notieren fünf Agenturmitarbeiterinnen Stichpunkte: die Grundlage der noch zu erstellenden KI-Kunst.
„Wir suchen nicht einfach Fotos im Internet“, sagt KI-Experte Manuel Stark. Er braucht Geduld beim Erklären, denn nicht jeder und jedem Hinz&Künztler:in erschließt sich der Prozess der Bilderstellung sofort.
Homeless Gallery
Die Homeless Gallery läuft ab dem 21. Februar als Pop-up-Ausstellung an unterschiedlichen
öffentlichen Orten der Stadt, und zwar dort, wo Obdachlose oft leben müssen: unter Brücken und Unterführungen und in Parks. Termine und Adressen werden immer kurzfristig auf Social Media bekannt gegeben. Die Kunst wird obendrein in einem Ausstellungskatalog gezeigt. Hinz&Künztler:innen verkaufen
ihn auf der Straße für 4,80 Euro, davon gehen 2,40 Euro an die Verkäufer:innen. Weitere Infos ab Mitte Februar unter www.homeless-gallery.com
Manuel Stark arbeitet mit „Dreamstudio“, einem Programm, das auf einem Text-zu-Bild-Generator basiert. Der Generator leistet dabei keine kreative Arbeit, sondern fungiert als eine Art Remixer, der auf riesige Datenbanken mit existierenden Stilen und Kunstwerken zugreift. Manuel gibt auf Englisch ein: „Acrylfarben, Gemälde eines Mannes, in Hamburg sitzend, über das Leben reflektierend, ruhige Stimmung, Pastellfarben, positiv.“ Die vier Resultate sind beeindruckend, aber nicht nach Jörg Petersens Geschmack. Auch sein Talent zum Zuhören wird als Vorgabe für die KI eingegeben. Das Ergebnis: ein getuschtes Gesichtsprofil mit einem großen Ohr, an dem Buchstaben hängen. Jörg fühlt seine Vorstellungen nicht getroffen, es werden neue Begriffe eingegeben.
„Die Möglichkeiten sind unendlich. Eigentlich machen wir uns gerade selbst überflüssig“, sagt eine Agenturmitarbeiterin später beim Kaffee und lacht. Vor allem für Menschen, die mit kreativer Arbeit ihr Geld verdienen, ist die KI eine Bedrohung. Ethisch-moralische Fragen tun sich auf: Ist es in Ordnung, den unverwechselbaren Stil von Künstler:innen bis ins kleinste Detail nachzuahmen? Wird es in Zukunft noch möglich sein, Deepfakes zu erkennen, bei denen beispielsweise ein Nacktbild mit dem Gesicht einer anderen Person montiert wird?
Falk Poetz leitet die kreativen Prozesse der Homeless Gallery. Ihm und allen Beteiligten ist wichtig, dass KI nicht als Selbstzweck eingesetzt wird, sondern „als Enabler der Kunstherstellung wirkt“, sagt Poetz. „Jeder und jede Hinz&Künztler:in erhält so die Möglichkeit, ein ganz persönliches Kunstwerk zu erstellen. Wir versuchen hier nicht einfach zu reproduzieren, sondern so lange an den Bildern zu arbeiten, bis ein Werk geschaffen wurde, mit dem sich die Hinz&Künztler:innen identifizieren. Es ist ihr Bild.“
Jörg Petersen hat seine Lieblingswerke gefunden. Eines ist in leuchtenden Rottönen getuscht, eine schemenhaft gezeigte Person sitzt auf einem Vorsprung und blickt in die Ferne. „Mir gefallen die geraden Linien und das Schwebende rundherum“, kommentiert Jörg, vor dem Monitor sitzend. „Ich sitze auch mal gern allein für mich und denke nach. Der ganze Tag läuft dabei sanft an mir vorbei.“ Sein zweiter Favorit erinnert an den poetischen Expressionismus des Malers Marc Chagall. „Ich sehe darin eine Betende“, sagt Jörg. „Um sie herum ist Unruhe, aber es gibt einen zentralen Punkt. Die geschlossenen Augen stehen für Ruhe. Die Gedanken kommen und gehen. Alles wird eins und alles kommt zu mir.“
Am Ende ist Jörg glücklich mit den Bildern. Seinen ganzen freien Montag hat er für die Homeless Gallery geopfert, morgen wird er wieder im Seniorenheim arbeiten. Als Hinz&Kunzt-Verkäufer stand er früher vor einem Supermarkt in Hittfeld, mittlerweile hat er dort eine Wohnung gefunden und arbeitet als Alltagsbegleiter für Bedürftige. „Das ist doch der Hammer: Meine ehemaligen Stammkunden vorm Edeka sind jetzt die Heimbewohner, um die ich mich kümmere.“
Jörg muss ins Aufnahmestudio, ein letztes Interview führen. Die KI-Kunst ist fertig, Jörg Petersens Geschichte noch lange nicht.