Mit 30 Jahren hat sich unser Autor gefragt, warum er immer so wütend ist. Ein paar Therapien und eine Buchveröffentlichung später kennt er den Grund: Sein Aufwachsen in Armut hat ihn krank gemacht.
Menschen, die in Armut leben, sind häufiger psychisch krank, sind anfälliger für Drogenkonsum und erleiden regelmäßiger Gewalt. Das ist nicht nur durch Studien belegt, ich habe es in meiner Familie erlebt. Vor meiner Geburt saß mein Vater zweimal im Gefängnis wegen Dealens, nun trinkt und kifft er „nur“ noch. Meine Mutter litt an psychischen Problemen. Und häusliche Gewalt war mir und meiner Schwester nicht fremd.
Laut dem Robert-Koch-Institut leiden in Deutschland im Laufe eines Jahres (!) 33,2 Prozent der Männer und 43,2 Prozent der Frauen in Armut an einer psychischen Störung. Das sind jeweils zehn Prozent mehr als bei Menschen mit mittlerem Einkommen.
Der wichtigste Grund dafür, dass arme Menschen öfter als der Rest der Bevölkerung zu psychischen Erkrankungen neigen, ist der Stress. Wer arm ist, bei dem läuft das Hirn heiß. Wie kriege ich den Kühlschrank gefüllt, wie das Auto repariert, warum macht die Waschmaschine komische Geräusche – was, wenn sie kaputtgeht?
Die Ebene, auf der ich mich mit dem Zusammenhang von Armut und psychischen Problemen beschäftigt habe, ist die persönliche. Ich begann, ein Buch zu schreiben. Mit der Erkenntnis, dass ich eine riesige Wut in mir trage, fing ich eine Therapie an. Schon in den ersten Stunden verstand ich, dass die Wut nur das Symptom meiner Probleme war. Es regnete Diagnosen: posttraumatische Belastungsstörung, Depressionen, ADHS, später eine Anpassungsstörung.
Die meisten dieser Probleme, das begriff ich intuitiv, hatten mit den sozialen Bedingungen meines Aufwachsens zu tun; mit Armut, mit dem Gefühl, sich selbst daraus nicht befreien zu können, mit daraus resultierender Hilflosigkeit und fehlendem Werkzeug, mit Gefühlen wie Angst, Wut, Ohnmacht und Scham umzugehen.
Ich bin Ende der 1980er in Hamburg geboren. Die ersten Jahre konnten Kredite die Armut abfedern, doch als meine Eltern sich trennten und meine Mutter Sozialhilfe bezog, wurde Verborgenes offensichtlich: Wir konnten nicht mithalten. Um den Abstand zwischen mir und meinen Mitschüler:innen nicht zu groß werden zu lassen, jobbte meine Mutter unter der Woche schwarz.
Doch das half nicht, um sich als Teil der Gesellschaft zu fühlen. Nach dem ungewollten Ausschluss an jeder Ladentür, hinter der Produkte warteten, die wir uns nicht leisten konnten, folgte der Selbstausschluss. Weil man das Gefühl der Abwertung nicht gut erträgt, bleibt man lieber gleich zu Hause. So lebte unsere Mutter es uns vor. So machten wir es nach.
In meinem Buch beschreibe ich, wie sich das empfundene Scheitern in den Lebenslauf einschreibt: Als ich mein Fachabitur nicht bestand; als ich nach der Schule im Supermarkt arbeitete und jahrelang täglich kiffte und fast ebenso oft trank. Mein Buch trägt den Titel „Keine Aufstiegsgeschichte“, weil ich von einem Leben erzählen wollte, in dem es der Protagonist nicht linear von unten nach oben schafft.
Man kann immer mindestens zwei Versionen seines Lebenslaufes schreiben. Die eine lautet: Ich habe es tatsächlich ein bisschen herausgeschafft aus der Armut. Ich studiere literarisches Schreiben, ich halte Lesungen, ich gebe Interviews. Das liegt an zwei Sachen: Ich hatte Kontakte zu jungen Leuten aus höheren Milieus und – trotz aller Schwierigkeiten zu Hause – eine Mutter, die mich unterstützt hat.
Die andere Version ist aber ebenso wahr: Die Wut hat mich nicht verlassen, Hoffnungslosigkeit, wenn mir wieder etwas misslingt, und Angst vor der nächsten Nachzahlung sind meine stetigen Begleiter. Es geht zwei Schritte vor und einen zurück.
Es braucht weniger Geschichten von Aufsteiger:innen und mehr Geschichten von jenen, die den Sprung nicht schaffen. Damit verstanden wird, welche Gründe dafür verantwortlich sind, dass Armut vererbt wird. Und damit wir verstehen, dass es ein politischer Trick ist, über die kaum existente Durchlässigkeit von Gesellschaftsschichten zu sprechen und nicht über das, was wirklich das Problem ist: Dass wir in einer Klassengesellschaft leben, in der die Vielen für die Profite der Wenigen ausgebeutet werden.