Der Rapper Disarstar kritisiert den Kapitalismus und soziale Ungleichheit, damit schafft er es nun auf Platz eins der deutschen Hip-Hop-Charts. Ein Treffen auf St. Pauli.
Disarstar ist heute etwas nervös. Was vor allem daran liegt, dass sein Hund Tex unruhig zwischen seinen Beinen hin- und hertigert, während er selbst auf dieser Runde durch St. Pauli über sich, seine Musik und sein Leben sprechen soll. Er trägt eine schwarze Jogginghose, schwarze Cap, schwarze Jacke, die Leute erkennen ihn so. Vorhin eine junge Frau, die ein Foto mit ihm machen wollte, nun grüßt ihn ein älterer Herr mit grünem Mantel und grünem Hut. Der Mann lebt auf der Straße, man kennt sich von den täglichen Gassirunden über den Kiez.
Disarstar, der eigentlich Gerrit Falius heißt, lebt auf St. Pauli, seit er 17 Jahre alt ist. Mit 15 nahm ihn das Jugendamt aus seiner Familie, er zog in eine Notunterkunft, dann in ein Wohnheim. Und er begann mit der Musik, nur fand die damals keiner gut. Mit 16 Jahren veröffentlichte er seine erste EP: „Endstation“. Rund zehn Jahre später steht Disarstar mit seinem neuen Album auf Platz eins der deutschen Hip-Hop-Charts. Seine Tour ist in den meisten Städten ausverkauft, einer seiner mehr als 92.000 Follower auf Instagram gratuliert dem „einzigen Artisten aus Deutschland mit tiefgründiger Philosophie“. Ein anderer schreibt, endlich werde „mit Rap Klartext gesprochen“.
Und tatsächlich lässt sich seine politische Botschaft aus seinen Texten sehr konkret herauslesen. Disarstar serviert sie in knappen Zeilen, würde beispielsweise gerne „Springer enteignen / FDPler vertreiben / Faschos ins Lager / Für bessere Zeiten.“ Er will, dass „Flüchtlinge bleiben“, will „Milliardäre enteignen“. Sein Album nennt er: „Rolex für Alle“.Dass Hip-Hop Armut und soziale Ungleichheit beschreibt, ist nicht neu. Nur entwickelt sich daraus meist die gängige Deutschrap-Erzählung, die über den Kampf nach oben erzählt und dort verharrt: mit teuren Autos und der neuen Rolex am Arm, dem Luxus, den man sich erarbeitet hat, als Alltäglichkeit. Disarstar findet, man müsse aus solchen Biografien politische Schlüsse ziehen, entgegen dem „neoliberalen Mainstream“. Und erzählt seine Geschichte anders, spricht von „Zufall, Glück und etwas Fleiß“. Dankt seinen Freund:innen und seinem ehemaligen Sozialarbeiter.
Disarstar lernte früh, wie Armut das Leben verändern kann. Er wuchs in sicheren Verhältnissen auf, bis die Firma seines Vaters in finanzielle Schwierigkeiten geriet. Damals war er ungefähr zwölf Jahre alt später rappt er über Panikattacken und die Angst, er „sei aus demselben Holz geschnitzt / wie sein Alkoholikervater“. Er war drogenabhängig und wurde als Jugendlicher wegen schwerer Körperverletzung zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.
Es ist schon etwas her, als Disarstar sich in einem Song („Wer ich bin“) selbst beschrieb. Er sei „mehrschichtig wie Blätterteig“, ein „Streitsüchtiger mit ner Rhetorik wie ne Panzerfaust“. Ein „intellektueller Hinterwäldler“, ein „indiskreter Linksextremer“. So richtig kann man das gar nicht glauben, wenn der 28-Jährige seinen Hund knuddelt, seinen Manager etwas unsicher fragt, ob er „heute zu verklatscht aussehe“. Mittlerweile lebt er von seiner Musik und studiert. Also, wer ist er heute, was davon stimmt noch? „Eigentlich alles“, sagt Disarstar auf seiner Gassirunde. Seine politischen Überzeugungen sind dieselben geblieben, er sagt: „Ich bin vor allem sicherer geworden, wer ich bin.“
Ein paar Tage zuvor veröffentlichte er ein Video, in dem er Metallbügel von einer Bank auf St. Pauli abflexte. Er spricht darin von der hohen Zahl an Obdachlosen in Deutschland und kritisiert eine Architektur, die sie aus dem Stadtbild vertreiben soll. Das Video bekam viel Zuspruch, doch es gab auch Kritik, ausgerechnet von dem „CaFée mit Herz“, der Tagesaufenthaltsstätte für Obdachlose, für die er im Video zu Spenden aufrief. Man arbeite seit Jahren gut mit dem Hotel zusammen, zu dem die Sitzbank gehöre. In einer öffentlichen Stellungnahme distanzierte man sich von der Aktion. Nur, Disarstar ging es ja nie nur um eine Sitzbank oder ein Hotel; es geht ihm um das große Ganze.
Am Abend nach der Gassirunde mit Hinz&Kunzt sitzt er auf der Bühne des „Übel&Gefährlich“ an der Feldstraße. Der Raum ist voll junger Menschen, etliche stehen. Bei Wasser und Cola spricht Disarstar mit dem Kulturkritiker Wolfgang M. Schmitt, es soll um „Kunst und Haltung“ gehen. Schmitt fragt, ob die Aktion mit der Flex denn etwas bewirkt habe? Na ja, meint Disarstar, es sei wohl eher ein „repräsentativer Move“ gewesen. Vermutlich habe er niemandem groß geholfen, es ging um die Aufmerksamkeit. Sein Publikum klatscht. Disarstars Spiel mit der Aufmerksamkeit ist Teil seines Erfolgs. Seit Jahren macht er Ungleichheit in seinen Texten sichtbar, meist die auf seinem Kiez, auf dem er „Obdachlose neben Frauen im Range Rover“ sieht. Und kritisiert fehlende Perspektiven: „Leute fallen um, um mich rum, sind nicht dumm, sie sind planlos / Unser Zug fährt nicht los, es gibt nicht mal ein’n Bahnhof.“ Wenn man fragt, was solche Zeilen bewirken können, muss man vielleicht fragen, was Musik generell schaffen kann. Disarstar sagt, er sei „kein Philosoph oder Soziologe, der sich mit der nötigen Präzision einem Thema widmen kann.“ Musik müsse verkürzen; und wenn sie politisch sein möchte, könne sie nur populistisch sein.
Politischer Populismus funktioniert über starke Emotionalisierung, Disarstars politischer Rap möglicherweise auf dieselbe Weise: Seine Tracks sind gezeichnet von Wut, Hass, Aggressivität gegenüber der „herrschenden Klasse“; sie kritisieren Politiker:innen dafür, dass ihnen die Nähe zu denjenigen fehle, die von Armut und Diskriminierung betroffen sind. Gleichzeitig weiß Disarstar, dass die Welt nicht alles ernst nimmt, was er sagt. Und wundert sich darüber. Zum Beispiel, wenn er „den depressivsten Song Deutschlands“ rausbringe und ihm dann Fans schreiben: „Bitte mehr davon!“ Da frage er sich, ob die Leute nicht verstehen, dass seine Musik wirklich von innen kommt; dass er die Wut und Traurigkeit erlebt hat, die er hier irgendwie verständlich machen will.
Das Problem mit seiner Glaubwürdigkeit ist, dass er selbst einen großen Widerspruch lebt. Disarstar steht bei einem Major-Label unter Vertrag und bezeichnet sich als Marxist. Er trägt Markenklamotten und findet, man müsse den Kapitalismus überwinden. Seine Musik wird zur Ware, ein Hoodie mit dem Schriftzug „Rolex für Alle“ gibt es in seinem Onlineshop für 57 Euro. Disarstar sagt: „Solange es dieses kapitalistische System gibt, muss ich auch darin leben.“
Es wäre nicht schwer, Disarstars politische Botschaft einfach als ein großes, trotziges Dagegen zu lesen. Weil er jene populistischen Fragen stellt wie: „Politiker reden gut zu, was haben die mit unserem Leben zu tun?“ Weil er Dinge einfach absägt, auch die gesamte Politiklandschaft mit Sätzen wie: „Politik forever, Genosse der Bosse.“ Im Jahr 2015 sagte er in einem Interview mit VICE, Nichtwählen sei hierzulande die einzige Option. Reicht das aus, wenn man wirklich etwas verändern möchte? Disarstar hat in den vergangenen Jahren trotzdem gewählt. „Die Leute in meinem Umfeld gehen nicht wählen, weil sie nicht glauben, dass ihre Stimme irgendetwas verändern wird. Sie gehen nur wählen, um die AfD zu verhindern“, sagt er. Er sei der Überzeugung, man brauche eine Revolution, deren Gedanke gar nicht mal so revolutionär klingt: „Alle Menschen sollten ein erträgliches Leben haben.“
Als Jugendlicher habe ihm sein Sozialarbeiter einen Tipp gegeben, der bis heute wichtig für ihn ist. Er habe damals angefangen, einen Kalender zu führen. Seitdem kann der Rapper nicht mehr ohne leben, trägt sich Termine ein, plant seine Woche. Er könne zwar nicht behaupten, dass er die auch immer alle einhalte. Nur das Chaos, das lässt sich damit zumindest ein wenig ordnen.