Virtual Reality

Mit den Augen einer Obdachlosen

Autor Jan Paersch in der 3-D-Welt, Organisator Holger Kraus in der Realität. Foto: Dmitrij Leltschuk

Die Kino-Reihe „Flexibles Flimmern“ kommt zu Hinz&Kunzt und zeigt den 3-D-Film „We Live Here“ – eine berührende virtuelle Erfahrung.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Mein letztes Erlebnis mit Virtual Reality (VR) war ein grässliches. Für ein paar Minuten war es amüsant, mit einem virtuellen Rover über den Mond zu rasen. Doch schon ­Sekunden nach der Fahrt plagte mich eine intensive Übelkeit, die Stunden anhalten sollte. Die Lust auf computergenerierte Parallelwelten war mir für lange Zeit vergangen.

Doch nun, Jahre später, ist alles anders. Ich setze die 3-D-Brille ab und fühle mich gut, von leichter Desorientierung abgesehen. Holger Kraus lacht mich an. Ich lächele zurück, obwohl mir nicht danach zumute ist. Ich bin tief berührt und sprachlos. Soeben habe ich buchstäblich am eigenen Leib ­gespürt, was es heißt, seine Lebensgrundlage zu verlieren. Obdachlos zu werden.

Holger Kraus ist schon immer Kinofreak gewesen; ­Filme sammelt er, seitdem er 14 Jahre alt ist. Der Bergedorfer arbeitete als Eventkaufmann, doch zunehmend kam in ihm der Wunsch auf, sich selbst zu verwirklichen: seine Filmleidenschaft, sein technisches Wissen und sein, wie er selbst sagt, „didaktisches Sendungsbewusstsein“ zu verbinden. 2006 gab es die erste Veranstaltung seiner Reihe „Flexibles Flimmern“: Kino an ungewöhnlichen Orten, immer passend zur Thematik des jeweiligen Films. Es gab schon Screenings auf dem Ohlsdorfer Friedhof und im Spielcasino. Doch ein exotisches Setting allein hat Kraus nie gereicht. Sein Lieblings-Hashtag auf Instagram ist #kinomitdrumrum, oft gibt es eine stimmige kulinarische Begleitung, fast immer wird diskutiert.

3-D-Film „We Live Here“

Der Film von Rose Troche läuft exklusiv für unsere Leser:innen am Di, 15.11., Minenstr. 9, halbstündlich von 11 bis 20 Uhr, Eintritt frei, Spende erbeten. Organisation: flexiblesflimmern.de, Anmeldung erforderlich unter
www.huklink.de/we-live-here

Wer den Film „We Live Here“ gesehen hat, wird Redebedarf haben – es ist ein vielschichtiges, bewegendes, auf­rüttelndes Kunstwerk, das mit einem galoppierenden Pferd beginnt. Eine englische Stimme kommt aus dem Off: Stell dir vor, du hast deinen Traumjob und kümmerst dich um wilde Hengste. Doch dann stirbt dein Chef, du verlierst deinen Job, du hast keine soziale Absicherung und du wirst obdachlos.

Dieses Schicksal hat Rockey getroffen. Die Filmemacherin Rose Troche hat die Frau im Alter von 59 Jahren in einem Park in Los Angeles kennengelernt und zu ihrer Protagonistin gemacht. „We Live Here“ ist frei auf Youtube verfügbar, doch wer den Film wirklich erleben will, braucht dazu technisches Equipment: eine Oculus Quest 2 Brille mit Headset. Längst sind als Inhalte für die VR-Sets nicht nur Sportspiele oder Pornos verfügbar, auch anspruchsvolle Unterhaltung ist möglich. So lässt sich mit „Anne Frank House“ per VR das Hinterhaus-Versteck der berühmten Autorin in 3-D erkunden. Und nun: das Leben von Rockey.

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Weitere Informationen

Ich sitze auf einem Hocker in einem Büro in den Hinz&Kunzt-Redaktionsräumen, die Brille am Kopf fest­geschnallt, in den Händen zwei Controller, die meine Bewegungen direkt in die virtuelle Realität übertragen.

Der Film beginnt mit realen 360-Grad-Filmaufnahmen: Rockey packt ihren Rucksack und verlässt ihr Zelt im Park. Dann ist es an mir, mich in einer animierten 3-D-Umgebung zurechtzufinden. Ich drehe mich um die eigene Achse: In dem gepflegten Igluzelt gibt es eine Schlafpritsche, einen Stuhl, Tische und ein Radio, das ich später anstellen darf.

In der Luft vor mir schweben zwei transparente Hände, per Controller kann ich damit Gegenstände greifen. Ich öffne eine Box, in der sich alte Fotos befinden. Sobald ich eines berühre, beginnt Rockey Geschichten zu erzählen: von ihrer Schulzeit, ihrer Heirat auf einem Motorrad, ihren Jahren als Cowgirl. Ihre Erinnerung an die Ranch mit den Hengsten wird brutal von einer Sirene unterbrochen – und einem Polizisten, der Rockeys Habseligkeiten durchwühlt.

Das Filmerlebnis „We Live Here“ dauert zwischen 15 und 18 Minuten, eine nur scheinbar kurze Zeitspanne, in der man in abwechselnd quietschbunte, minimalistische und fotorealistische Bilderwelten eintaucht – in das Leben einer ganz normalen Frau, die einfach Pech hatte. Um alle Nuancen des Films zu erfassen, braucht es gute Englischkenntnisse; den Kern des Werks versteht man auch ohne. Der Film wird nie sentimental und berührt doch. Holger Kraus, der eher zufällig darauf stieß, hat nach dem ersten Ansehen Tränen vergossen.

Artikel aus der Ausgabe:

Tafeln vor dem Kollaps

Schwerpunkt Ehrenamt: Wie mehr als 1200 Freiwillige Hamburgs Obdachlosen helfen und wieso das problematisch ist. Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) spricht im Interview über die Überwindung der  Obdachlosigkeit. Außerdem: Wieso Antiquariate ums Überleben kämpfen und manchen Geflüchteten aus der Ukraine die Abschiebung droht.

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Autor:in
Jan Paersch
Freier Kulturjournalist in Hamburg. Zwischen Elphi und Stubnitz gut anzutreffen - und immer auf einen Espresso.

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